„Bürger Schippel“ von Carl Sternheim am Berliner Ensemble, Regie Fritz Marquardt

 

 

 

Makabrer Aufstieg ins bürgerliche Heldenleben

 

Ist er aufhaltsam, dieser Aufstieg des Lumpenproletariers Paul zum „Bürger Schippel"? Die verschreckten Kleinbürger wehren sich, geben aber schließlich doch nach. Carl Sternheims Komödie „Bürger Schippel" entstand 1911/12, also dreißig Jahre vor Bertolt Brechts „Arturo Ui". Bei Sternheim konnte allenfalls nur Ahnung sein, was Brecht später mit der Ui-Figur bewußt und treffsicher geißelte: in welch blutigen Machtrausch die imperialistische Ordnung das „bürgerliche Heldenleben" hineintreiben kann. Ich halte es für einen Vorzug der Inszenierung Fritz Marquardts im Berliner Ensemble, daß sie die potentielle Gefährlichkeit jener „kleinbürgerlichen Aufsteiger" sichtbar macht, die sich die Großbourgeoisie als willfährige Machtstützen heranzieht.

Hermann Beyer als Bürger Schippel spielt das keineswegs vordergründig. Da ist gewissermaßen noch alles offen, noch alles möglich. Dieser Bierkneipenmusikant Paul Schippel hat noch treuherzige Redlichkeit und ein biederes, nur gelegentlich bedrohliches Lachen. Er hat kleine, eruptive Aggressivitäten, im allgemeinen aber leutselige Friedfertigkeit, jedoch eine geradezu kriminelle Neugier auf Einblicke in den höheren Stand, auch Machtgelüste. Die treiben ihn an die Seite der Hicketiers, Wolkes, Kreys, der wohlhabenden Bürger der Stadt. Als vierter Mann im Sängerquartett ist er ihnen kurz vonnöten. Der „Dank" ist vorerst ein Fußtritt. Aufgenommen in den Bürgerstand wird er erst, als er sich als Sieger in einem grotesken Duell „würdig" erweist. Diese manische Besessenheit eines aufsteigenden negativen Helden, das schlimme Beispiel, drückt Hermann Beyer überzeugend aus. Gewiß ist da viel heutige Draufsicht.

Sternheim erstrebte „die deutsche Ständekomödie", die „den deutschen Bürger in seiner ererbten Romantik" aufschreckt; er wollte als Störenfried bürgerlichen Behagens, als Bekämpfer gesellschaftlicher Übel und als Warner zur Läuterung des Bürgers beitragen. Solch Anliegen konnte nicht Grund eines heutigen Zugriffs sein.

Deshalb suchen Regie und Darsteller das Allgemeingültige. Meines Erachtens geschieht das zu resolut. Marquardts Ausstatter Pieter Kein baute beispielsweise dem hausbackenen Goldschmied Hicketier den kalt-prachtvollen Salon eines vermögenden Großbourgeois. Darinnen funktionieren Sternheims Figuren dann nicht durchweg. Selbst deren zerhackte, knallige Sprechweise verlangt nicht unbedingt die abstrakte Karikatur.

Carmen-Maja Antoni macht vor, wie satirisch genau die Figuren gefaßt werden können. Die ambitionierte Hochherrschaftlichkeit ihrer Frau Hicketier ist so stimmig wie entlarvend. Welch bizarre Ironie ergäbe das, könnte sie diese Jenny in einem Plüschwohnzimmer herumstolzieren lassen! Herbert Olschok (Hicketier), insbesondere Martin Seifert (Buchdruckereibesitzer Wolke) und Michael Kind (Krey) liefern allerlei faselige Spielastik, die ihre Gestalten beschädigt.

Den Abend bestimmt neben Hermann Beyer Corinna Harfouch als Thekla Hicketier. Ihre überdrehte Exaltiertheit, nur gelegentlich zu äußerlich, erzählt von der angestauten Sehnsucht des jungen Weibes. Wie sie den Fürsten (präzis-süffisant Hans-Joachim Frank) in die Kutsche nötigt, ist ein reines Kabinettstück. So frappierend treffend gerät die Aufführung nicht in jeder Passage.

 

 

 

Neues Deutschland, 21. November 1985