„Schlusschor“ von Botho Strauß an den Münchner Kammerspielen, Regie Dieter Dorn

 

 

 

 

Vertreibung letzter Dämonen?

 

Sage niemand, der 1944 in Naumburg/Saale geborene Botho Strauß, der Spezialist für „abfedernde“ Dramatik, wüßte keine Fabel zu bauen. Zwar ist's beim „Schlußchor" keine dramatische, auch keine epische, sondern eine episodische, und Aristoteles würde die Nase rümpfen. Aber was schert ihn der. Schließlich geht es um Deutschland!

Unmißverständlich ironisiert Strauß die Euphorie ums sich vereinigende Vaterland und apostrophiert mit filigraner komödischer Technik den „Schluß" der Nachkriegsepoche. Der subtilen Charakterisierungskunst des Autors steht Regisseur Dieter Dorn nicht nach. Seine Uraufführung an den Münchner Kammerspielen war jetzt im Rahmen des 28. Theatertreffens Berlin im Deutschen Theater zu sehen.

Auf der Bühne der „Wohlstands "-Staat Bundesrepublik als ein sauberer, weißer, lichter großer Guckkasten (Ausstattung: Jürgen Rose). Für den 1. Akt („Sehen und Gesehenwerden") ist eine marmorne Jeßner-Treppe hineingestellt, worauf der Chor, eine feierlich dunkel gekleidete Gesellschaft, ein „kleines Betriebsjubiläum", ein „historisches Seminar", Platz genommen hat. Während die Damen und Herren sich eitel und geduldig fotografieren lassen, führen sie nachhaltig Blabla-Konversation, was eine junge Frau langweilt, weshalb sie provokant ihren entblößten Busen in die Linse hält. Als einer „Deutschland!" wie einen Trompetenstoß zwischenschmettert, nehmen sie alle für einen Moment preußische Hab-acht-Haltung ein.

In der zweiten Runde („Lorenz vor dem Spiegel") wird im weißen Kasten die nackte Delia (Sunnyi Melles) beim Bade überrascht, und zwar von ihrem Architekten (Manfred Zapatka). Diese spröde Dame, Prototyp überkandidelter High Society, gibt sodann einen Sommerball. Im weißen Kasten, nun das mondäne Vestibül, steht ein imposanter Kristallspiegel, Ort für ausgiebige Selbstbetrachtung der Gäste. Der Rufer (Rudolf Wessely) stört mit seinem emphatischen „Deutschland!" Die Leute haben andere Probleme. Der Architekt Lorenz zum Beispiel. Er führt sich vor dem Spiegel wie ein Feigling auf, kann bei Delia nicht landen und erschießt sich.

Darauf (3. Akt: „Von nun an") ist der weiße Kasten ein Restaurant, ein „zwitschernder Vogelkäfig". An Tischen verstreut Gäste. Ursula schwärmt vom Feuerland. Eine alte Dame (Elfriede Kuzmany) mit ältlicher Tochter, dem Fräulein Anita von Schastorf (Gisela Stein), bringt ihren 1944 verstorbenen Mann, einen angeblichen Widerständler gegen die Braunen, ins Gespräch. Der Deutschland-Rufer stört. Unberührt waschen Mutter und Tochter schmutzige Familienwäsche vor den Gästen.

Nun aber Deutschland! Zwei Eheleute aus Friedrichsroda flattern wie exotische Vögel herein. Scheu, verstört, mit vager Hoffnung freut sich der Mann „auf die Diskussion" mit den Einheimischen. Die Mauer falle, die Stadt sei ein einziges Fest, verkündet der Rufer. Man eilt hinaus „zum neuesten Blendwerk". Einer der Gäste, ein Leser, macht sich ein „historisches Eselsohr" in sein Buch. Ein anderer, ein kundiger Historiker, gibt dem Fräulein Anita zu verstehen, daß ihr Vater kein Widerstandskämpfer war, sondern ein reaktionärer Junker. Unterdessen werden draußen mit Feuerwerk „die letzten Dämonen der Nachkriegszeit" vertrieben.

Im weißen Kasten aber taucht ein Greif auf: der preußische Pleitegeier, das „schlappe Wappen". Mit diesem treudeutschen Vogel hat die altersgeile Anita eine intime Begegnung. Am Ende liegt das Federvieh zerrupft am Boden, und das derangierte Fräulein faselt vom „Wald". Denkt sie unverdrossen an ihren ehemaligen Besitz im Osten?

Allerhand Symbolik mithin, viele realistische Bilder auch, Stoff genügend zum Nachdenken über das Alltagsgebaren satter, autistischer Wessis. Dorn nimmt sie sich ausführlich vor, betont spöttisch ihr selbstzufriedenes Beharrungsvermögen in historischer Zeit. Eine zwar sich dehnende, letztlich überzeugende Inszenierung des wohl wesentlichsten Stückes neuester deutscher Dramatik.

 

 

 

Neues Deutschland, 11./12. Mai 1991