„Die Unbekannte aus der Seine“ von Ödön von Horváth an der Schaubühne Berlin, Regie Barbara Frey

 

 

 

 

Alltag vom Streunerin

 

Bislang war es »Die Unbekannte aus der Seine«. Neuerdings an der Schaubühne ist es »Eine Unbe­kannte aus der Seine«. Wie auch immer: Bei Regisseurin Barbara Frey sucht das verschmähte Mädchen, eine mittellose, entwurzelte Streunerin, in einem deut­schen Gewässer tödlichen Trost. Womit Ödön von Horváth, der 1901 in Ungarn geborene und 1938 in Paris tragisch um­gekommene Dramatiker, nicht eben gut bedient ist. Den von Horváth aufgegriffe­nen Kriminalfall aus dem Jahre 1933 nicht in Frankreich, sondern aktuell in ei­ner deutschen Stadt anzusiedeln, nicht in einer Seitengasse, sondern in einem pro­saisch nüchternen Plattenbau (Bühnen­bild Bettina Meyer), nimmt der traurigen Komödie das lokale Kolorit und das poeti­schen Flair, versachlicht, glättet und ver­simpelt.

Allerdings: Den Fall ohne den etwas mystischen Touch vorzustellen, den Horváth aufdrückte, muss nicht unbedingt schaden. Die Regisseurin legte ganz of­fenbar Wert darauf, dass die Unbekannte, die im Epilog ehrfürchtig als ein Engel be­schrieben wird, nicht verklärt ist und ganz real als eine vereinsamte junge Frau mit romantischer Seele auftritt. Linda Olsanskys Unbekannte erscheint denn auch nicht engelhaft und zur Rettung Alberts

gleichsam vom Himmel gesandt, sondern direkt, unmittelbar und mit irdischer Selbstverständlichkeit, obzwar der Schauspielerin spielerische Verträumtheit und närrische Eigensinnigkeit, die der Fi­gur auch innewohnen, nicht gelingen.

Das herbe, schmächtige Mädchen, kontaktfreudig und anlehnungsbedürftig, sucht Schutz und einen Mann, den sie in Albert gefunden zu haben glaubt, dem ar­beitslosen Speditionsbeamten, dem sie nachläuft und dessen Überfall auf den Uhrmacher sie zufällig beobachtet. Prompt versucht sie, Liebe zu erpressen, und zwar mit dem Versprechen, ihn, den Mörder, zu decken. Als Albert sie abweist, nimmt sie sich das Leben. Die »Dringlich­keit« dieser Tat weiß Linda Olsansky nicht zu vermitteln. Ihre Streunerin ist mir zu gut drauf, zu selbstsicher, zu wenig vom Leben zermürbt und in existenzieller Not. Im Epilog ist die erfolglose kleine Erpres­serin nur noch als Totenmaske präsent. Alle verehren die unbekannte Selbstmör­derin, niemand erkennt sie, auch Albert nicht, der inzwischen mit Irene verheira­tet ist, der ehemaligen Blumenhändlerin, die ihn einst abblitzen ließ.

Das Verbrechen wurde nicht aufgeklärt, der Mörder lebt sozusagen noch immer unter uns. Eben diese Alltäglichkeit ver­sucht Barbara Frey zu verlebendigen. Da sitzen die Bürger abends in ihren Schließfächern, plaudern, sehen fern, trinken und spähen neugierig auf die

Straße. Nachts stöhnt eine Frau mäßig lustvoll, Diebe beraten ihren nächsten Bruch. Albert hockt verliebt und ent­täuscht vor Irenes Tür. Der eigentlich haltlose Kerl ist bei Lars Eidinger ein im­pulsschwacher, irgendwie ganz netter Bursche, den nicht so sehr seine soziale Misere zum Verbrecher werden lässt, sondern eher Frust aus Liebeskummer.

Die Irene von Julika Jenkins, eine hüb­sche Frau unentschlossen zwischen zahl­reichen Verehrern, blüht auf, als sie um die Brosche kämpft, die ihr Albert ge­schenkt hatte und die Ernst (Jörg Hart­mann), ihr derzeitiger Geliebter, benutzen will, um die Fronten zwischen sich und Albert zu klären. Selbstbewusst und vital erklärt sie, dass sie als eine alleinstehende Geschäftsfrau anerkannt werden möchte. Ein Moment emotionalen Höhenflugs nicht nur Julika Jenkins', sondern auch der Inszenierung, die zwar die Vorgänge so redlich wie behutsam reiht, aber beim charakterisierenden Ausloten der Figuren Wünsche offen lässt.

Überhaupt agiert die junge Truppe deutlich unausgeglichen. Thomas Dannemann fällt auf als Theodor, der Leidtra­gende - eine exzellente Studie eines ge­beugten, etwas formal trauernden Herrn mittleren Alters. Mit Dannemann kommt ein wenig von jenem Milieu verwinkelter Flure und Hinterhöfe auf, von jener lie­benswerten Skurrilität, ohne das und ohne die Horváth flach und eindimensional bleibt. Auch die eckig-spröde Hausmeiste­rin der Catherine Stoyan prägt sich ein. Wenn sie nachts »Mord!« ruft, drastisch theatralisch und realistisch zugleich, hat das die hintersinnige Komik, die der Dichter braucht.

 

 

 

Neues Deutschland, 20. September 2000