„Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht am Berliner Ensemble, Regie Alejandro Quintana

 

 

 

Einst fernes Märchen, nun wieder nahegerückt

 

Die Shen Te der Carmen-Maja Antoni im Berliner Ensemble schreit ihre Verzweiflung schließlich elementar heraus. Die drei Götter entschweben in dem kleinen Tabakladen, mit dem die Odyssee des „Guten Menschen von Sezuan" begann. Shen Te konnte nicht gut sein zu sich und zugleich zu anderen. Sie brauchte den bösen Vetter Shui Ta. Nun, da ihr selbst die neuen Richter — sprich: alten Götter — nicht helfen, weiß sie sich keinen Rat mehr.

Regisseur Alejandro Quintana verzichtet auf den Epilog, in dem Brecht die Fragen noch einmal bündelte, die er mit seiner tragischen Parabel aufgeworfen hatte: „Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt? Vielleicht nur andere Götter? Oder keine?" Mit hintersinniger Verspieltheit endet, woran der Dichter bis 1941, ein Jahrzehnt, gearbeitet hatte. Er läßt einen Darsteller vor den Vorhang treten und sich dafür entschuldigen, daß alle Fragen offen und kein „rechter Schluß" gefunden sei.

Heute, fünfzig Jahre später, braucht's den Epilog nicht, lassen sich Antworten wissen. Quintana hat die naheliegendste inszeniert: Der Mensch kann nicht gut sein. Keine freundlich verfremdende Distanz zur Geschichte daher, wie sie Benno Besson mit Käthe Reichel zunächst in Rostock und dann 1957 am Berliner Ensemble zeigte. Damals schien's ein fernes Märchen, weil in der Realität ein „rechter Schluß" gefunden worden war. Ein Trugschluß, wie sich inzwischen erwies. Bitterer, assoziationsreicher denn je ist Brechts Stück nahegerückt.

Die Götter erreichen Sezuan — im Berliner Ensemble nun wieder zu den Orten gehörend, an denen Menschen ausgebeutet werden — durch einen Irrgarten (Ausstattung: Manfred Grund). Auf der Hauptbühne symbolisch eine abschüssige Schräge. Rechts die Öffnung eines großen Rohres der Kanalisation. Dort haust Wang, der Wasserverkäufer. Ekkehard Schall spielt ihn als einen modernen Clochard, der die Erleuchteten (Arno Wyzniewski, Peter Hladik, Franz Viehmann) aufgeregt empfängt. Schall hat einen gewissen erzählenden Gestus und überzeugt mit den Songs von Paul Dessau, die im übrigen fast überflüssig scheinen.

Quintanas Inszenierung ist nicht in der darlegenden Spielweise angelegt, sondern sucht Nähe und Identifikation. Die Shen Te der Carmen-Maja Antoni ist ein vom Leben geprägtes plebejisches Menschenkind von hier und heute, nicht romantisch-einfältig, sondern urwüchsig vital, unverbraucht redlich, trotz widriger Umwelt. Bis sie wahr macht, was der Verwandtschaft vorschützend einfällt: den Vetter.

Dazu eine helle Halbmaske, ein wenig Mummerei auch mit Lederjacke und Stirnband. Aber Vetter Shui Ta ist nicht überzogen, sondern sozusagen nur typisch bösartig, nämlich nach Maßgabe bürgerlicher Selbstverständlichkeit. Weswegen man sich in Sezuan auch gar nicht erst lange wundert, sondern schnell kuscht. Denn der „abwickelnde" Shui Ta handelt für diese Welt normaler als die gütige Shen Te.

Die Liebesszene des „Engels der Vorstädte", wie Shen Te genannt wird, mit dem des Lebens überdrüssigen Flieger unterm Baum im Regen ist von rauher Poesie. Wie die Antoni bringt auch Jaecki Schwarz als Sun einen sehr natürlichen Ton ein. Dieser arbeitslose Flieger ist in solch eindringlicher Wahrhaftigkeit wohl noch nie gespielt worden.

Das übrige Figuren-Ensemble ist behutsam stilisiert. Die Witwe Shin von Annemone Haase hält mit ihren lebenskundigen Anmerkungen gern ein wenig Kontakt zum Publikum, Peter Bauses eitler, geschäftstüchtig „wohltätiger" Barbier Shu Fu sucht scheinheilig sogar dessen gläubiges Wohlwollen. Veit Schuberts Polizist ist eine possierliche willfährige Marionette, Barbara Bachmanns Mi Tzü der Prototyp der süffisanten Hausbesitzerin.

Sehr herzlicher Beifall zur Premiere im Berliner Ensemble.

 

 

 

Neues Deutschland, 2. April 1991