„Der Sturmgeselle Sokrates“ von Hermann Sudermann in den Kammerspielen des DT Berlin, Regie Thomas Langhoff

 

 

 

 

Theaterereignis von zeitnaher Frische

 

Eine Sternstunde der Schauspielkunst in den Kammerspielen des Deutschen Theaters! Dies vorweg. Mit der Tragikomödie „Der Sturmgeselle Sokrates" von Hermann Sudermann entdeckte uns Regisseur Thomas Langhoff diesen — zu Recht? — vergessenen deutschen Bühnenautor als einen großen Realisten. Das Stück, mit dem nicht nur die bürgerliche Literaturkritik nichts anzufangen wußte, wird in der Aufführung des hervorragenden Ensembles zu einem wahrhaft ergötzenden Erlebnis.

Hermann Sudermann (1857 bis 1928), auch heute schwer einzuordnen, ist letztlich zu den Naturalisten zu zählen. Er hatte literarisch nie das Format eines Gerhart Hauptmann. Insofern war er ein Mitläufer des Naturalismus wie etwa Ludwig Fulda oder Oskar Blumenthal. Eher ein Unterhaltungsschriftsteller also. Seine mehr oder weniger sozialkritischen Stücke waren in ihrer Mischung von moralisierender Satire, pointierter Konversation, der drastisch herausgestellten Gegensätzlichkeit von oben und unten, arm und reich, frei und gefesselt sehr theaterwirksam. Was Sudermann nahezu perfekt beherrschte, war die Dramaturgie des Stückeschreibens: Ein Theatraliker im besten Sinne.

Beispiel: Sturmgeselle Sokrates, eigentlich Albert Hartmeyer, Zahnarzt am Ort, rüstiger Repräsentant bürgerlicher Hoffnung von 1848, demokratische Glut noch immer im Herzen. Dieser Sokrates, Mitglied des zusammengeschrumpften geheimen Bundes der Sturmgesellen, weigert sich etwa anno 1878, einen erkrankten prinzlichen Jagdhund zu kurieren. Sein Sohn Fritz, ebenfalls Zahnarzt und geschäftlicher Konkurrent des Papas, hilft dem bittenden Landrat aus der Bredouille.

Prompt dringt Vater Hartmeyer darauf, den zwecks Verstärkung und Verjüngung der Sturmgesellen soeben als Mitglied aufgenommenen Sohn wegen liebedienerischer, hündischer Gesinnung wieder auszuschließen. Die Runde der beratenden alten Herren, angeführt vom lahmen, aber geistig hellwachen Vorsitzenden, Freiherrn von Laucken-Neuhof, wird zu einer grotesk-erbärmlichen Versammlung. Ihre einst progressiv-demokratischen Ideale sind zur leeren Phrase erstarrt. Laucken begreift, daß da vorerst ein Stärkerer ist: Bismarck.

Unter den Bedingungen der tragischen Lähmung der Demokratie, wie sie in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Deutschland als Folge der preußischen Reichsgründung Bismarcks vor sich ging, zeichnete Sudermann frappierend genau und bitter die Tragikomik derer, die redlich und beharrlich ihren freiheitlichen Überzeugungen treu geblieben waren, ohne dabei die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse zu begreifen. Und er schlug theatralisches Feuer daraus.

Das Archiv des Geheimbundes gerät in falsche Hände. Die Sturmgesellen leben in Angst. Da kommt der Landrat — und überreicht Hartmeyer als Dank der Königlichen Hoheit für die Heilung der Hundetöle das „Ritterkreuz des Ordens zum Greifen für treue Dienste". Eine grandiose Szene! Aus ohnmächtigem Staunen erwachend, fühlt sich der Achtundvierziger nun gar geschmeichelt. Er legt den Orden an. Dann ertappt er sich gleichsam und wirft das Metall ekelerfüllt in die Ecke, schmerzhaft-verzweifelt in Tränen ausbrechend. Sudermann !

Langhoff bedient diese Theatralik subtil und mit faszinierender Akribie zugleich Tragik und Komik dieses Sturmgesellen Hartmeyer wie seiner Bundesgenossen und Anverwandten. Das ist sozial und historisch konkreter psychologischer Realismus der Schauspielkunst, wie er selten anzutreffen ist auf den Bühnen. Da wird nichts verfremdet, nichts ironisiert, nichts aktualisiert — und dennoch oder gerade deswegen ist dies hautnahes, wundervoll lebendiges Theater, auslösend produktive, sinnreiche Assoziationen.

Welch reife Schauspielkunst! Otto Brahm, Max Reinhardt, Wolfgang Langhoff und Wolfgang Heinz scheinen heimlich die Hand im Spiele zu haben. Doch diese zeitnahe Frische, diese besondere szenische Phantasie, dieses so heutige menschliche Verständnis für jede Figur kommen unverkennbar von Thomas Langhoff. Jeder seiner Schauspieler verdiente eine eigene Passage. Ich kann hier nur Namen nennen.

Dietrich Körner gibt den markig-kernigen Sokrates. Unnachahmlich seine drollige Verbiestertheit, sein heilig-knorriger Zorn, sein unfreiwilliges Spießertum. Kurt Böwe spielt den Herrn Landrat von Grabowski, junkerlich schlau, jovial, scharf. Unerhört komisch ist er als leicht angeheiterter, sich selbst verspottender Ordensverleiher. Prachtvoll Otto Mellies (Freiherr von Laucken-Neuhof), Simone von Zglinicki (Ida), Elsa Grube-Deister (Frau Hartmeyer), Hans Teuscher (Markuse), Reimar Joh. Baur (Stentzel), Martin Trettau (Boretius), Peter Borgelt (Tomaschek). Der Nachwuchs hält erfreulich mit: Jan Josef Liefers (Fritz), Tobias Langhoff (Reinhold), Torsten Michaelis (Siegfried), Studenten der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch". Gespielt wird im milieugerechten Bühnenbild Pieter Heins. Hingehen, selber sehen!

 

Neues Deutschland, 4. Juni 1986