„Baumeister Solneß“ von Henrik Ibsen im Maxim Gorki
Theater Berlin, Regie Arie Zinger
Angst vor der Jugend
Die Inszenierung des Schauspiels „Baumeister Solneß" von Henrik Ibsen am Maxim Gorki Theater in Berlin war schon vor Wochen zur Premiere vorgesehen. Aber ein Unfall bei den Proben erzwang eine Verschiebung. Emanuela von Frankenberg, die die blutjunge quirlige Hilde Wangel spielen sollte, hatte sich an ihrem Partner verhoben, an Klaus Manchen, der den bärbeißigen Baumeister Solneß probierte. An ihrer Rolle indessen hatte sie sich nicht überhoben. Das war jetzt zu sehen. Bravos und herzlicher Beifall honorierten den Einsatz. Eine natürlich impulsive, herrlich ungestüme Schauspielerin hatte der Figur überzeugend Leben gegeben.
Das ist bei diesem Stück von auffallend konventioneller dramaturgischer
Struktur nicht unbedingt selbstverständlich. Es gehört neben „Rosmersholm",
„Die Frau vom Meere" und „Klein Eyolf" zu den - wie Thomas Mann fand
- „geisterhaften Suggestionen" des späten Ibsen. Der psychologisch feinfühlige
Kritiker gesellschaftlicher Zustände hatte sich graduell aus der widrigen Realität
zurückgezogen und gab sie in seinen Stücken nicht mehr unmittelbar, sondern übersteigert
reflektiert im Denken der Menschen.
Baumeister Solneß treibt es um. Zwar hat er Glück gehabt.
Vor allem im Beruf. Aber er hat Angst vor der Zukunft. Vor der Vergeltung
seiner Arbeitnehmer. Vor dem Allmächtigen. Vor der Jugend. Er fürchtet,
abtreten zu müssen. Seine Frau Aline ist ihm entfremdet. Er kompensiert den
Frust mit dieser oder jener Liebelei, etwa mit Kaja (Marie-Lou Sellem), der
Verlobten eines seiner Angestellten (Thomas Schmidt als Ragner). Regelrecht
die Sonne geht ihm auf, als die herzig naive, himmlisch unkomplizierte, pubertär
in ihn verliebte Hilde Wangel in sein Leben tritt.
Es entwickelt sich eine Liaison, mit der der Autor 1892 sozusagen
Ufa und alle privaten Fernsehsender in bester Qualität vorwegnahm. Die Story
dennoch erträglich serviert zu haben, ist das Verdienst des Regisseurs. Arie
Zinger (Januar 1995 mit O’Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht"
am gleichen Haus) drängt das Romantisch-Kitschige wie das Suggestiv-Mystische
zurück und setzt zeitnah auf Drastik und Frische. Mit gutem Gespür für Widersprüche
in den Vorgängen wie in den Figuren. Nun hat er in Klaus Manchen einen vorzüglichen
Schauspieler.
Ein rabiater Durchsteher betritt die Bühne, fast skrupellos auf seinen
Vorteil bedacht. Wie ein Kommandeur beherrscht er sein Büro. Die scheue Kaja nutzt
er rücksichtslos aus. Zu seiner Frau unterhält er sozusagen korrekte
Beziehungen. Gegenüber Hilde öffnet er sich, langsam, vorsichtig, immer selbstbewußter.
Läßt er sich von ihr in den Tod treiben? Tollkühn steigt er auf den Turm,
obwohl er von sich weiß, daß er nicht schwindelfrei ist. Aber er weiß auch, daß
die leidenschaftliche Zuneigung des jungen Mädchens keine Zukunft hat. Wie
ihm ein Leben mit seiner engstirnigen Frau nicht mehr lebenswert scheint.
Monika Lennartz gibt dieser Aline vortrefflich Profil - eine sich selbst so
spröd wie demütig in Alltagspflichten einschnürende gutbürgerliche Dame.
Neues
Deutschland, 22. Februar 1996