Anmerkungen zur Berliner Spielzeit 1991/92

 

 

 

Theater einer zerrissenen Nation

 

 

Einen bewegenden Theaterabend in Berlin. Hat es den noch? Aus der vergangenen Spielzeit ist mir eine Aufführung sehr gegenwärtig. Benno Bessons Inszenierung der Komödie „Hase Hase" von Coline Serreau am Schiller-Theater. Einfach ein schönes Erlebnis. Ergötzend. Anregend. Grund, über Mensch und Gesellschaft auch noch nach Tagen nachzudenken.

Da war ein kluggebautes, pfiffiges Stück über den Lebenskampf einer Proleten-Familie. Und glänzend geführte Schauspieler wie Ursula Karusseit, Katharina Thalbach und Christian Grashof agierten komödiantisch bravourös. Die Aufführung bewies: Theater ist lebendig mit einem Werk, das sich forsch der Zeit stellt. Was ja - erinnert man sich - das Wesen des Theaters ausmacht, nämlich aktuell zu sein, Gegenwart nicht vermittelt, sondern unmittelbar zu reflektieren.

Nun ist den Berliner Bühnen für 1991/92 nicht eigentlich vorzuwerfen, sie hätten die Zeit verschlafen. Sie haben neue Stücke vorgestellt. Den „Schlußchor" von Botho Strauß gab es, verspätet zwar, an der Schaubühne (Regie Luc Bondy). Diese erste dramatische Stellungnahme ist noch immer die profilierteste zur überraschend hereinbrechenden Einheit.

Dann gab es „Hermes in der Stadt" von Lothar Trolle, uraufgeführt am Deutschen Theater (Regie Frank Castorf), eine kauzige Vorführung diverser Kriminalfälle aus DDR-Zeit. Im Schiller-Theater wurde Volker Brauns „Böhmen am Meer" uraufgeführt (Regie Thomas Langhoff), ein Versuch, politischen Bankrott, Umweltverschmutzung und kleinkarierte Liebe in ein Bild zu bringen. Am Deutschen Theater war „Karate-Billi kehrt zurück" von Klaus Pohl zu sehen (Regie Alexander Lang), eine Mär von der staatssicherheitlichen Verfilzung des „DDR-Volkes". An der Schaubühne schließlich, allerdings auf der Probebühne, kamen Oliver Czesliks „Heilige Kühe" zur Uraufführung (Regie: Klaus Metzger), ein bitter notwendiges, bissiges Spektakel gegen neonazistische Umtriebe. Und das Hansa-Theater lieferte für den Kiez in Moabit die Uraufführung des „Kaiser vom Potsdamer Platz" von Horst Pillau (Regie: Horst Niendorf), einen leider verunglückten Polit-Schwank über die Mauer in Berlin.

Mithin, in der Hauptstadt sind neue deutsche Werke ins Gespräch gekommen. Auffallend, daß sie vorwiegend registrierenden Charakter haben. Die Autoren halten sich zurück mit eigener, gar mit fordernder, auf Veränderung drängender kritischer Meinung. Der eine oder andere Schreiber möchte auf keinen Fall etwa gar als Politischer ertappt werden. Das ist denn doch befremdlich angesichts der eskalierenden politischen Turbulenzen und der schreienden Ungerechtigkeit im zwar territorial vereinten, aber tief zerrissenen Deutschland. So gesehen war das Angebot der Dramatiker wie auch der Bühnen beschämend mager.

Worin besteht die Marktfähigkeit, die Chance des Theaters gegenüber Fernsehen, Funk und Presse? Wohl kaum in einem elitären Kurs auf „rein poetisches" Spiel. Dazu ist die Nation zu aufgewühlt. Das Theater könnte das Medium sein, das nicht gleichgeschaltet ist, dessen Macher nicht Handlanger der Herrschenden sind. Aber die Intendanten müssen sich natürlich diplomatisch verhalten. In einem Land, in dem - wie jüngst in München - opponierende Demonstranten als Terroristen verketzert werden, muß man vorsichtig sein. Schließlich geben eben jene das Geld, die die öffentliche Meinung manipulieren.

Politik- und Parteienverdrossenheit der Bürger indessen ist ein mittlerweile offiziell zugelassenes Thema. Und wie ist das mit dem unsäglichen, die Demokratie zur Farce aushöhlenden Tauziehen um den § 218? Oder mit der ungeheuren Degradierung und Bevormundung von Millionen Ostdeutschen? Oder, oder, oder. Neonazismus, Ausländerfeindlichkeit, Arbeitslosigkeit. Stoffe und Themen liegen auf der Straße. Werden Autoren, werden Theater reagieren?

Das offenkundige Defizit an brisanten, die Gesellschaft aufstörenden Stücken scheint mir Grund genug, von einer Theaterkrise zu sprechen. Über Erbeaneignung und noch so neue Sicht auf Klassik läßt sich Theater nicht wesentlich machen. Auch wenn dieser oder jene Wendebeflissene neuerdings Bühne und Mystik neu vereint sehen möchte, das Problem bleibt: Befriedigen sich Theatermacher ästhetisierend selbst oder greifen sie ins soziale Getriebe ein, indem sie Impulse geben, Kritik, Lebenshilfe. Die ärgerlichste Variante introvertierten Theaters in Berlin bot Hubert Wilson mit seiner Bilder-Zeremonie „Krankheit Tod" von Marguerite Duras an der Schaubühne, eine sinnleere, ermüdende, arrogante und teure Selbstbespiegelung.

Aber die Theaterkrise ist letztlich nicht die der Künstler, sondern die des Staates. Man sollte sich immer und immer wieder bewußt machen: Eine Regierung, die über Nacht Milliarden für den Krieg am Golf rauswirft, die weiter aufrüstet, die ihre Kriegsschiffe in fremde Meere schickt, diese Regierung hat angeblich nicht genügend Geld für die Kunst. Unterm Strich bedeutete das für Berlin: Abwicklung der Freien Volksbühne; Entlassungen; Drohung, einige Bühnen zu privatisieren. Und außerdem und einschneidend: überall Kürzungen der Etats. Das schafft Verunsicherung, mürbt nachhaltiger als alle Ideologie und produziert erduldende und letztlich willfährige Künstler.

Zur Krise in Berlin gehört auch die fragwürdige Theaterpolitik des Kultursenators Roloff-Momin. Er hat ein schweres Amt und mag bisher allgemein ganz geschickt laviert haben. Aber von der künstlerischen Leitung eines Theaters scheint er nicht allzu viel zu verstehen. Alle großen Bühnenleistungen vergangener Jahrzehnte erwuchsen aus der Kraft und Entscheidung eines Souveräns. Bertolt Brecht am Berliner Ensemble, Wolfgang Langhoff am Deutschen Theater, Erwin Piscator an der Freien Volksbühne, Benno Besson an der Volksbühne, Peter Stein an der Schaubühne, um nur Berliner Beispiele zu nennen.

Insofern war bereits die Etablierung einer mehrköpfigen Intendanz am Schiller-Theater eine theaterfremde Scheinlösung. Was inzwischen am Tage ist. Alexander Lang und Volkmar Clauß wollen ausscheiden, noch bevor diese Bühne irgendein markantes Profil erkennen läßt. Also ist Skepsis angebracht gegenüber der angekündigten neuen Leitung des Berliner Ensembles. So sehr und gern ich Erfolg wünschen möchte; aber soll da etwa auf bombastische Weise, nämlich mit Hilfe der Namen Peter Palitzsch, Heiner Müller, Matthias Langhoff, Fritz Marquardt und Peter Zadek, nur endgültig bewiesen werden, daß diese Bühne eigentlich passe ist? Die alten Herren spielen mit. Sie sind schon aktiv. Sie nehmen die ausgewiesenen Publikums-Renner an diesem Theater, nämlich Brecht-Stücke, aus dem Spielplan. Mit groteskerem Schwachsinn kann eine neue Leitung, wie immer sie heißen mag, ihr Amt am BE nicht antreten. Fehlt nur noch, daß man die Logen dieses traditionsreichen Hauses umbauen läßt. Damit auch der Letzte gravierende Veränderungen sehen möge. Eine Meldung allerdings stimmt erwartungsvoll. Am Berliner Ensemble soll Rolf Hochhuths „Wessis in Weimar" uraufgeführt werden (Regie: Einar Schleef), jenes Stück, das schon als Manuskript für politischen Wirbel sorgte.

Reden wir weiter von Erfreulichem. Theater ist lebendig, wenn es die Menschen mit ihren Sorgen und Hoffnungen nicht vereinzelt, sondern zusammenführt, auch über soziale Schichtungen hinweg. Was wahrlich schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, solange wir Deutschen eine zerrissene Nation sind. Unser Problem, auf das bekanntlich schon Lessing aufmerksam machte. Aber natürlich muß nicht immer gesellschaftliche Brisanz gefordert sein. Auch artifizielle Versiertheit von Regisseur und Schauspielern, elementare Schauspielkunst, kann anregen, erheben, ergötzen.

Ich erinnere an Hans-Joachim Franks Inszenierung des „König Kacke" von Jürgen Holtz (Kleine Bühne „Das Ei"), die mit vitaler Theatralik tyrannische Gelüste verhöhnte. Ich denke auch an die Posse „Florentiner Strohhut" von Eugene Labiche in der Regie von Manfred Wekwerth (Berliner Ensemble), eine amüsante Verspottung der makaberen Eigenschaft des Menschen, sich der Konvention zu beugen.

Wie auch immer. Bei jedem Stück, das auf den Spielplan gerät, sollte ein Bezug zur Gegenwart erkennbar sein. Heiner Müller hat mit „Mauser" (Deutsches Theater) ein Thema nachgeliefert, das die Geschichte scheinbar ad acta gelegt hat: Töten zum Heil einer Revolution. An der Volksbühne interpretierte Henry Hübchen Molieres „Menschenfeind" mit illusionslosem Blick auf den tragik-komischen Wahrheitsfanatiker Alceste. Am Maxim Gorki Theater verwies Karl Gassauer mit den „Narben der Erinnerung" von Jörge Diaz auf schicksalschwere offene Wunden, auf Intoleranz zwischen den Linken. Am Berliner Ensemble führte Christoph Schroth mit Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang" ein frühes Beispiel ideologischer Borniertheit vor.

Fast scheint es, als seien Stilrichtungen, Handschriften und Lesarten zur Zeit weniger von Interesse, sozusagen zweitrangig, weil Formfragen hinter inhaltlichen zurücktreten. Wenn ich zu rekapitulieren versuche, wie kommunikationsfreudig Regisseure sind, denke ich an Andrea Breth. In ihr sehe ich neben Benno Besson, Thomas Langhoff, Luc Bondy und Christoph Schroth eine Inszenatorin, die menschliche Schicksale durch wirklichkeitsnahes Spiel erlebbar zu machen versucht. Ihr „Nachtasyl" von Gorki an der Schaubühne spricht dafür. Das wird nicht immer goutiert, ist auch kein Trend.

Aber Aufführungen, die nebenher belegen, daß Theater etwas mit realistischer Menschendarstellung und unmittelbarer Kommunikation zu tun hat, erzielen beim Publikum in der Regel gute Kritik. Hier sei noch „Tod des Handlungsreisenden" von Arthur Miller (Regie: Siegfried Bühr) am Maxim Gorki Theater erwähnt, auch „Die Ratten" von Gerhart Hauptmann (Regie: Alfred Kirchner) am Schiller-Theater und „Quai West" von Bernard-Marie Koltes (Regie: Gert Hof) an der Volksbühne.

Erstrangig in der Tat, und zwar erbarmungsloser denn je, nämlich alle ästhetischen Probleme überschattend, ist die schicksalhafte, widersprüchliche Verkettung von Politik und Theater. Sie ist wider Willen enger, als manche Betroffene wahrhaben wollen. Sie existiert in jeglicher Hinsicht, vor allem aber in finanzieller. Und darum: Solange die Bundesregierung die hauptstädtischen Bühnen nicht ausreichend unterstützt, nämlich (wie in Bonn der Brauch) wenigstens 70 Prozent der Berliner Mittel für Kultur übernimmt, bleibt just dies die Kardinalfrage einer Spielzeit. Auch der kommenden.

 

 

Neues Deutschland, 30. Juli 1992