„Golden fließt der Stahl“ von Karl Grünberg an der Berliner Volksbühne,
Regie Frank Castorf
Vorerst verspotten sie sich selbst
Daß Frank Castorf jetzt an der Berliner Volksbühne Karl Grünbergs (1891-1972)
sozialistisches Frühchen „Golden fließt der Stahl" wiederbelebt, kann
Ostler kaum aus der Nische locken. Für Westler ergibt sich allenfalls ein wenig
Nachhilfe-Unterricht über die „Zone" und die „exotischen Lebewesen"
darin, die nach dem zweiten Weltkrieg unter sowjetischer Besatzung und ohne
Marshall-Plan aus Trümmerwüsten Arbeitsplätze, Fabriken und Häuser schufen. Als
Beleg werden im Programmheft ein gutes Dutzend ehemals volkseigene Neubauten
vorgestellt. Und Bühnenbildner Bert Neumann malt bunte kleine Autos auf den Parkplatz
vors schmucke Stahlwerk.
Was also interessiert? Belanglos heutzutage, daß Grünbergs von der
Partei hochgelobtes Stück 1950 in Nordhausen uraufgeführt wurde, in der Provinz,
was für Normalität spricht im Kunstbetrieb von damals. Bemerkenswert allerdings,
daß zwei Jahrzehnte später Castorfs Inszenierung des nämlichen Stückes in Brandenburg
nach der Premiere abgesetzt wurde. Verständlich daher, wenn der Regisseur
sozusagen noch immer nicht fertig ist. Was treibt ihn um? Die einst selbstlose
Arbeit der Werktätigen in Grünbergs simpler Interpretation? Heute gerade mal
noch gut für grimmig verfremdende Ironie. Oder soll vorgeführt werden, wie deutschen
Volkes Seele schon damals unter entfremdendem Totalitarismus litt? Dies - und jenes
- und mehr.
Das wellblech-umrahmte Sitzungszimmer mit beleuchtetem Stalin-Porträt,
zwei derben, langen Holztischen und diversen Stühlen erinnert an die trockene
Nüchternheit der sogenannten „Produktionsstücke" der fünfziger Jahre. Alles
sieht aus nach penetranter Langeweile. Aber Castorf belebt die Szene. Flott und
in schöner Ordnung marschieren die Figuren ein und nehmen Platz. Ein furioses
Rededuell beginnt. Die volkstümlich gemeinten Dialoge Grünbergs geschickt
hinterfragt - wieviel naiver Zeitgeist von damals ist darin aufgehoben, die
hoffende, blinde Gläubigkeit der einen, die gesunde Skepsis der anderen. Der
Regisseur hebt die profanen Vorgänge so liebevoll wie kritisch auf eine Spielebene
des skurril Komischen und modelliert ausgesprochene Typen.
Mutter Schreivögel, die Reinemachefrau, die, obwohl inkompetent, überall
demokratisch mit reinredet, ist sinnigerweise gleich dreimal vertreten.
Hildegard Alex, Annekathrin Bürger und Karin Ugowski plärren wahrhaft ordinär.
Kathrin Angerer ist eine allerliebst gutgläubige junge Laborantin Korn, Heide
Kipp eine forsch-korpulente Schrottarbeiterin Minna. Den lavierenden
Werkstattschreiber Fiehmlich gibt Bodo Krämer, den hilflosen BGL-Vorsitzenden
Kolasius Kurt Naumann. Verständnisinnig serviert Gerd Preusche den Schmelzer Richard
Kilian als einen Mann von aufopfernder, naiver Einsatzbereitschaft. Und Joachim
Tomaschewsky als Frau: Mit stiller Dezenz verfremdet er die ihren Mann
suchende, völlig konsternierte Mucha.
Bald wird klar: Obwohl Castorf markante Punkte der Fabel durchaus
anspielt, interessiert ihn weniger der Kriminalfall im Stahlwerk, die
Aufklärung des mysteriösen Verschwindens des Ingenieurs Mucha. Er benutzt das
Stück, um über den Zusammenbruch eines Gesellschaftssystems nachzudenken, das
nach 1945 alle Zeichen der Zeit für sich zu haben schien. Er kann keine
Antworten geben, bedient Klischees, planscht mit Wasser. Seine Mittel sind
heterogen. Aber Zusammenhänge erhellt er. Zum Beispiel horcht man auf, wenn
eine Radiostimme ertönt und Berlin zur Zone spricht, mit Name und Adresse
vorgebliche Spitzel benennend. Mehrfach sodann verwendet Castorf Texte aus Heiner
Müllers „Wolokolamsker Chaussee", um in Erinnerung zu rufen, wie
„stählern" dies kleine Land DDR mit dem großen Siegerland östlich Deutschlands
zusammengeschmiedet war. Nicht nur, daß er Müllers kompakte Gedankenblöcke wie
Monumente in Grünbergs Trivialwerk wuchtet, auch wie Störenfriede nehmen sie
sich aus, wie Kronzeugen einer Historie, die in diesem großen Deutschland nicht
verdrängt werden möge.
Wenn das „sozialistische Kollektiv" als Gesangseinlage fröhlich
herausfordernd den Titel „Arbeitsscheue Ostler" von der Band Fluchtweg
schmettert, regt sich Widerspruch im Auditorium. Aber auch Zustimmung wird
laut. So ist das. Menschen, die in mühevoller Arbeit aus dem Nichts Stahlwerke
errichtet haben, können das aus ihrem Leben nicht tilgen. Sie werden denen, die
ihre Fabriken liquidiert haben, möglicherweise noch Kummer machen. Vorerst
verspotten sie sich selbst.
Neues Deutschland,
10. April 1996