„Stella“ von Goethe am Kleinen Haus Dresden, Regie Wolfgang Engel

 

 

 

 

Guter Wille ist höher als aller Erfolg

 

Was bewog Wolfgang Engel, den jetzt in Frankfurt am Main engagierten Regisseur, an seiner langjährigen Wirkungsstätte, dem Dresdner Staatsschauspiel, zum Auftakt der Spielzeit 1991/92 Goethes „Stella" zu inszenieren? War es der formale Reiz, beide Fassungen szenisch zu verbinden, die lebensstürmende, herausfordernde des Jahres 1775 und die lebensmüde, traurig endende des Jahres 1803? Wohl auch, empfand ich, ging es darum, am Beispiel der Liebe und insofern durchaus ergötzlich das ewig Konfliktvolle menschlichen Daseins zu assoziieren.

Bei Engel scheinen Stella und Cäcilie, die verlassenen Frauen, und Fernando schließlich und endlich entschlossen, ein Leben miteinander zu versuchen. Man reicht Sekt, stößt an, küßt sich. Der rührige Verwalter (Wolfgang Gorks) findet eine bunte Lichterkette wie glückliche Laubenpieper in ihrer Idylle.

Plötzlich fließt Blut aus Stellas Mund. Sie verkraftet den Kompromiß nicht, hat Gift genommen. Entnervt fuchtelt Fernando mit Pistolen, erschießt sich. Und Cäcilie resümiert sarkastisch: „Guter Wille ist höher als aller Erfolg." Ein Ende mit Schrecken also. Aber gar nicht traurig. Einfach so sagenhaft grotesk wie das Leben.

Anfangs ist da das romantische Schwärmen der nur noch ihrer Liebeserinnerung lebenden Stella. Katherina Lange gibt verspielte Zartheit, eine junge Frau, die, acht Jahre allein, ihre Sehnsucht nach körperlicher Begegnung kaum noch zu unterdrücken vermag. Wenn sie Cäcilie Freundschaft anträgt, schwingt sogar irgendwie Hoffnung auf nahe Vertrautheit mit.

Als aber Fernando zurückkehrt, bricht die gezügelte Leidenschaft frei und selbstbewusst auf. Stella herzt den geliebten, lange entbehrten Mann ungestüm und körperlich zupackend. Sie läßt ihm kaum Zeit und Gelegenheit zur Reue. Christoph Hohmanns Fernando fügt sich denn auch schnell, ist so ganz der zwar aufrichtige, aber seinen Sinnen folgende Liebhaber. Rasch steigert sich Wiedersehensfreude zu begehrlichen Umarmungen.

Dann Cäcilie. Bei Susanne Böwe eine ihr Schicksal gefaßt tragende Ehefrau, die freilich durchaus noch Wünsche hat. Besitzergreifend fordert sie eheliche Pflichten ein. Und Fernando fügt sich auch hier. Wobei die beiden von ihrer Tochter, der scheuen, verunsicherten Lucie (Christiane Heinrich) gestört werden.

Solch komödisch sprechende Akzente setzt Wolfgang Engel immerzu. Mit souveräner, fröhlich-trockener Ironie erschließt er in Goethes lyrisch-gefühlig ausuferndem Text die realistische Substanz, das aufreibende Hin und Her der Liebenden zwischen natürlicher Leidenschaft und fragwürdiger Befangenheit in sozialer Konvention. Fast etwas zu ausführlich führt er vor, daß - wie Fernando glaubt -kalter Sinn, kühles Kalkül also, derlei Liebesknoten nicht zu lösen vermag.

Aber was heißt hier „kalter Sinn"? Wäre die Zeit nicht reif für Goethes „Lodder-Fassung", den sauwohl hingeschriebenen Vorschlag, statt nach Gift und Pistolen, nach dem Leben zu greifen und einfach - so lange Lust und Liebe währen - zu dritt zu leben? Eine gewisse Antwort gibt das Bühnenbild (Horst Vogelgesang): Ein nagelneuer, aus rohem Holz gezimmerter Pavillon. Vestibül zugleich. Darin knorrige, Herbstlaub tragende Bäume. Wenn die Fensterläden geöffnet werden, flutet Licht herein. Aber eine öde, abbröckelnde Hausmauer versperrt jede Aussicht. Und die schmale Öffnung ins Hausinnere führt ins dunkel Ungewisse.

Unter Wolfgang Engel wurde einmal mehr ausgezeichnetes Theater gemacht. Die Dresdner dankten mit freundlichen Ovationen.

 

 

 

Neues Deutschland, 27. August 1991