„Das
Tagebuch der Anne Frank“ von Frances Goodrich und Albert Hackett im Deutschen
Theater Berlin, Regie Emil Stöhr
Warum sind die Menschen so töricht?
Schweigend
erhoben wir uns. Das Schicksal des jüdischen Mädchens Anne Frank, aufgezeichnet
von Anne in ihrem Tagebuch, für die Bühne bearbeitet von Frances Goodrich und Albert
Hackett, erschütterte auch die Zuschauer in den Kammerspielen des Deutschen
Theaters. Viele Tausende vor ihnen — in Deutschland und in anderen Ländern —
verließen die Theater ebenso ergriffen und wachgerüttelt wie sie. Wachgerüttelt?
Droht neue, ähnliche Gefahr?
Am
Mittwoch, dem 3. Mai 1944, schrieb die vierzehnjährige Anne: „Warum, wofür ist
überhaupt Krieg? Warum können die Menschen nicht in Frieden leben? Warum alle
die Verwüstungen? Diese Fragen sind verständlich, aber eine erschöpfende
Antwort hat bisher noch niemand gefunden. Ja, warum werden in England stets
größere Flugzeuge, noch schwerere Bomben konstruiert und zur selben Zeit
Reihenhäuser für den Wiederaufbau? Warum werden täglich Millionen für den Krieg
verwendet, aber für die Heilkunde, die Künstler und auch für die Armen ist kein
Pfennig verfügbar? Warum sind die Menschen so töricht?"
Seit diese Zeilen geschrieben wurden, ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen. Und in der Prinzengracht in Amsterdam, wo Anne Frank in ihrem Versteck mit dem geliebten Tagebuch Zwiesprache hielt und verzweifelt Antwort suchte auf die Fragen ihres frühreifen Herzens, dort in der Prinzengracht ist wieder das friedliche, normale Leben eingezogen. Also ist alles schon wieder Historie, würdig lediglich gedenkender Trauer? Nein! Der Tod Anne Franks und ihrer Angehörigen ist kein Einzelschicksal, das wir — zufrieden im Theatersessel sitzend — teilnahmsvoll entgegennehmen und dann vergessen wie eine beliebige Bühnentragödie. Hier sind wir aufgerufen! Und unser ergriffenes Schweigen sei Bekenntnis zur Tat. Vergessen wir nie:
Ende des
Jahres 1939 lebten in Europa 9,5 Millionen Juden, bis 1945 wurden 6 Millionen
von ihnen ermordet. Am 9. November 1954 wurde im Bayrischen Rundfunk folgender
Kommentar gesprochen: „. . . die wegen Beihilfe zum Totschlag in Bergen-Belsen
verurteilte Hertha Ehlert bekommt vom Bund Heimkehrerentschädigung. Ein
deutsches Gericht lehnte die Rente eines rassisch Verfolgten mit der Begründung
ab, die fettarme Kost im KZ sei seiner Gesundheit förderlich gewesen ..."
Wo entschied dieses deutsche Gericht? In dem Staat, in dem 1958 — rund 14 Jahre
nach jenem verzweifelten Ruf aus einsamem Versteck — ein Herr Adenauer erklärt,
Westdeutschland sei das wichtigste Kriegspotential der USA, und in dem sich ein
Herr Strauß ungestraft ein „Rüstungsdreieck Bonn-Rom-Paris zur Herstellung
kommender Waffen“ wünschen kann.
„Warum
sind die Menschen so töricht?" fragte damals Anne Frank. Und was fragen
wir? Packt uns nicht kalter Haß gegen jene Unmenschen, die von Atomwaffen wie
von Kinderspielzeug reden, die nach Atomraketen schreien, weil es in Europa
„zahlreiche ungelöste territoriale Probleme" gäbe? Anne Frank ist tot. Mit
ihr viele Millionen unschuldige Opfer jener, die heute in Westdeutschland offen
erklären, noch immer nicht genug zu haben. Doch wir versprechen dir, Anne, unschuldiges,
lebenshungriges, wissensdurstiges Menschenkind: Du sollst nicht umsonst gemordet
sein.! —
Es drängte
den Rezensenten, diese Gedanken hier auszusprechen. Die szenische Bearbeitung des
Tagebuches durch die beiden amerikanischen Autoren fordert geradezu dazu
heraus; denn in ihrer Tragödie von den eingeschlossenen jüdischen Menschen
haben sie vor allem den tragischen Untergang des Mädels Anne Frank sichtbar
gemacht. Vom ersten kindlich-naiven und ungestümen Besitzergreifen des
Versteckes durch Anne, von der Ausgelassenheit gegenüber Peter, vom Trotz
gegenüber der Mutter geht ihr Weg bis zu bohrenden Fragen nach dem Sinn des Daseins
und schließlich zur gar nicht mehr naiven, sondern zur bewußten Kritik an den
Erwachsenen: Ihr habt versäumt, mein junges Leben zu schützen! Blitzschnell
wird einem hier die brennende Aktualität bewußt.
Es
handelt sich um eines der bewegendsten Nachkriegsstücke des kritischen
Realismus. Durch die Figur der Anne gibt es die unmißverständliche Kritik, ohne
daß es eine Lösung andeuten könnte. Die Tragik ist, daß die Lösung, nämlich die
Verhinderung des Faschismus, lange Zeit vorher liegen müßte.
Gespielt
werden muß also die kritische Anklage. Die Gestapo, die nicht auftritt, muß als
Gegenspieler immer gegenwärtig sein, sie muß als unheilvolle Drohung jede
Handlung der Eingeschlossenen mitbestimmen. Sie alle, Otto Frank, seine Frau,
die beiden Daans und auch Dussel, haben sich in ihr Schicksal ergeben. Nur ein
Schrei gellt auf wie das Wüten eines jungen, verwundeten Tieres — der Annes.
Sie allein begreift die Tragik: Ihre Flucht aus dem Leben hätte nicht sein
müssen, hätten die Menschen den Faschismus nicht zugelassen.
Regisseur
Emil Stöhr versucht, die Entwicklung Annes bis zu diesem Höhepunkt zu führen,
welcher zugleich der des Stückes ist. Aber die zweifellos begabte Kati Székely
konnte ihm begreiflicherweise nicht folgen. Das frühreife Mädchen Anne Frank,
ihr Maß an Klugheit, Nachdenklichkeit, Empfindungstiefe, ihre kühle und
nüchterne Beobachtungsgabe und schließlich ihre schaurige Entschlossenheit,
vermag eine Debütantin schwerlich in all ihren Widersprüchen zu geben. Kati Székely
spielt vor allem die liebreizende, naiv-dreiste, manchmal aufdringlich ungezogene
Anne, sie ist aggressiv und schüchtern in ihrer zarten Liebe zu Peter. Doch
wenn sie den Erwachsenen ihren aus gequältem Herzen quellenden Notschrei
entgegenzuschleudern hätte, benimmt sie sich kaum anders als vorher, da sie
übermütig gegen Mutter oder Peter rebelliert. Sie spielt den privaten Trotz,
und es sollte gerade hier die erbitterte, bewußte Anklage des jüdischen Menschen
schlechthin sein.
Diese
letzte, nur großen Theaterabenden eigene menschliche, zugleich
gesellschaftliche Widersprüche aufreißende Tiefe war der Aufführung in den
Kammerspielen versagt, die im übrigen mit Wolfgang Heinz als Otto Frank, Ursula
Burg als Edith Frank, Loni Michelis als Frau van Daan, Werner Pledath als Herr
van Daan und Friedrich Richter als Dussel ausgezeichnet besetzt war.
SONNTAG, Februar 1958