„Tartuffe“ von Molière am Berliner Ensemble, Regie Tamás Ascher

 

 

 

Erotische Turbulenzen im Salon

 

Ein salopper, sportlich geschmeidiger junger Mann gibt sich als Diener der Kirche aus und übertölpelt einen gottesfürchtigen Bürger, den eitel ge­schäftigen Familienvater Orgon. Tartuffe, Molières legendäre Komödienfigur aus dem Jahre 1669, ist bei Tamás Ascher, dem Direktor des Budapester Katona-Theaters, ein aalglatter Betrüger, der ne­benher das erotische Abenteuer sucht und mit akrobatischer Kunstfertigkeit handelt.

Damit ist der Gestus des Abends be­nannt. Nicht schauspielerisch differen­zierte Desavouierung klerikaler Heuchelei im abgewohnten gutbürgerlichen Salon (Bühnenbild Zsolt Khell), sondern burles­kes Ausspielen der komischen Situatio­nen. Was Tamás Ascher beherrscht. Seine temperamentvolle Inszenierung ist genau im Arrangement, kennt keinen Leerlauf und pflegt lockeres, emotional forciertes Spiel. Stilprägend für das Berliner Ensemble ist solch operettiger Zuschnitt nicht, aber ohne Zweifel unterhaltsam. Die deutsche Fassung des Textes von Wolfgang Wiens: eingängige, pointierte Verse ohne Schnörkel.

Der Tartuffe von Rufus Beck, nackt un­ter der schwarzen Jacke (Kostüme Györgyi Szakács), ist also kein Mann der Kirche, auch kein lendenlahmer, verknit­terter, gar schielender alter Hutzelich, sondern ein kraftstrotzender Lustmolch und gewiefter Gauner, der sich lässig frommer Riten bedient, um ans Ziel zu kommen - an Orgons Vermögen sowie an dessen Ehefrau Elmire als Geliebte und dessen Tochter Mariane als Frau. Der Schauspieler zeigt nicht, dass Tartuffe heuchelt, sondern identifiziert sich, agiert nonchalant mit dem gewinnenden Charme eines Felix Krull.

Da ist einer zu Gange, der keine Skrupel kennt. Und er versteht zu taktieren. Nachdem er während seiner ersten Attacke auf Elmire von Sohn Damis (Steffen Schroeder) belauscht und beobachtet wurde, was für Damis mit einer blutigen Nase und für Tartuffe gerade noch einmal glimpflich abging, lässt er sich so schnell nicht aus vorsichtiger Reserve locken. Ursula Höpfners spröd-stolze Elmire muss ihm schon mal den Zeigefinger lüstern auf den Bauchnabel drücken, damit er auf Touren kommt. Dann aber tun sich Turbulenzen, wie sie bei dieser klassischen Verführungs-Szene wohl noch nicht geboten wurden. Nicht nur, dass Tartuffe bei seiner Jagd auf die Ehefrau im Rausch auch mal unter dem Tisch hindurchfegt, unter dem Ehemann Orgon lauert, er zerrt die zu­nehmend verzweifelte Dame kreuz und quer, klappt sie auf und zu, während der verstörte Orgon fassungslos dreinschaut. Komik exquisit. Was den Ehemann schließlich ganz und gar von Tartuffes Heuchelei überzeugt, ist dessen splitter­nackte Demonstration seiner Bereitschaft zu schändlicher Tat.

Orgon ist nur noch ein Häufchen Un­glück. Gegenüber Dorine, der aufmüpfi­gen Haushälterin, hatte er sich unter An­drohung von Prügel mit dem Staubsauger durchgesetzt, jetzt hat ihn alle Energie verlassen. Und auch der Glaube. Schon steigt er hoch, das Kruzifix zu entfernen. Joachim Bißmeier ist sowohl der gutgläu­bige, bornierte Ehemann wie alsdann der reuige, geknickte Familienvater. Für Schwager Cleante (Roman Kaminski), den eloquenten Vertreter bürgerlicher Ver­nunft, hat er allerdings noch immer kein Ohr. Die korpulente Traute Hoess, mi­misch manchmal vielleicht ein wenig zu deftig, gibt eine Dorine von fulminanter plebejischer Kraft. Wo sie sich aufpflanzt, kommt keiner vorbei. Ihrem Herrn wider­spricht sie, Mariane (Lotte Ohm), dem scheuen Fräulein, bietet sie mütterlichen Trost, und den verstörten Verlobten Valere (Matthias Walter) bringt sie zur Räson.

Nach kräftig ironischer Apotheose auf königliche Kunst und Gnade, gibt's zu­sätzlichen theatralischen Wirbel, weil der wegen diverser Vergehen vom König seit langem gesuchte Tartuffe flieht und der Kommissar (Axel Werner) von der staatli­chen Schusswaffe Gebrauch macht. Getö­se und Lärm, aber kein Blut. Tamás Ascher, so mein Eindruck, hat gerade noch einmal die Kurve gekriegt. Einzelne Buh-Rufe, freundlicher Beifall.

 

 

 

Neues Deutschland, 26. September 2000