„Taschenpostille“ von Bertolt Brecht am Berliner Ensemble,
Regie Nino Sandow
Ich kommandiere mein Herz
Schier unerschöpflich ist das Reservoir von Epigrammen, Sonetten, Psalmen und Balladen aus Brechts wilder Jungmänner-Zeit. Er selbst hat eine Auswahl in seiner »Taschenpostille« zusammengefaßt. Die Lektüre ist immer wieder reizvoll. Der Leser wird hin- und hergerissen vom Wechsel zwischen lax nihilistischem und tief realistischem Lebensgefühl. Kein Zufall, wenn Schauspieler das Bedürfnis haben, die ungestümen poetischen Ergüsse nicht nur einfach zu rezitieren, sondern obendrein irgendwie spielerisch zu zelebrieren.
Zwar habe ich noch nie eine wirklich überzeugende Darbietung erlebt,
aber unverdrossen erwartungsvoll erschien ich zum jüngsten Versuch im Berliner Ensemble, den dort Regisseur und Sänger Nino Sandow unter dem Titel »Ich
kommandiere mein Herz« unternimmt.
Der lautstarke Auftakt rumsender Mimen mit
E-Gitarre, Trommel und Becken schien zunächst alles zu übertreffen, was ich bislang
an Text übertönendem Übermut zu hören bekommen habe. Doch dann besann sich das
fidele Quartett. Hermann Beyer, Thomas Martius, Nino Sandow und Jens-Karsten
Stoll lauschten wirklich, gelegentlich sogar fast zu verhalten, in die
lebensklugen, teils frivolen, teils sarkastischen Nachdenklichkeiten des jungen
Dichters.
Fröhlich auskostend servierten sie, gekürzt
zwar, die fünf Lektionen aus der »Taschenpostille«, ergänzt durch diesen und
jenen Sinnspruch aus jener Zeit, dazu Lebens-Notate Brechts aus den Jahren
1916/22 (eingelesen von Thomas Martius). Eingefügt gegen Ende und vom Quartett mit Lust
vorgetragen: »Notate '98« eines nicht genannt sein wollenden Autors.
Ansteckende, durchaus auch besonnene Ungebärdigkeit. Alles in allem jedoch
scheint mir Brechts mentaler Grundgestus zu wenig bedient, dessen hellwacher
Ruf »Gegen Verführung«, zu finden im leider gestrichenen Schlußkapitel der
»Taschenpostille«. Brecht mithin eher als renitenter Bürgersohn denn als künftiger
plebejischer Aufklärer erinnert. Immerhin herrscht ein sachlicher, die Inhalte
mit wägender Distanz bietender Ton, mit dem vor allem Hermann Beyer umzugehen
versteht.
Die spielerische Juxerei zu diesem und jenem Text - Rolle rückwärts,
Wasser ausgießen, Eier sortieren, kopfüber hängen usw. - trifft den jeweiligen
Sinngehalt nur mäßig. Akzente des Unfertigen, Improvisatorischen, vielleicht
gewollt, dehnen und dekonzentrieren das Vorhaben vor allem nach der Pause.
Diverse Video-Einblendungen geben Rätsel auf. Die musikalische Garnierung am
Piano (Jens-Karsten Stoll) hingegen puscht den Abend hörbar. Man kann ihn sich
zufügen.
Neues
Deutschland, 1. Dezember 1998