28. Theatertreffen Berlin
Zwischen Spektakel und Selbstverliebtheit
Auch für Peter Zadek und seine
subtile Inszenierung des „Ivanov" von Anton Tschechow (Burgtheater Wien)
fanden sich beim 28. Theatertreffen Berlin grimmige Buh-Rufer. Zuvor war es
Dieter Dorn mit dem „Schlußchor" von Botho Strauß (Münchner Kammerspiele) oder
Leander Haußmann mit Ibsens „Nora" (Nationaltheater Weimar) ähnlich
ergangen. Geradezu unheimlich daher, daß sich bei Robert Wilsons „The Black
Rider" (Thalia-Theater Hamburg) in den Jubel keine Proteststimmen mischten.
Hingerissene Einmütigkeit. Weil Wilsons spektaklig gestylter
Jahrmarktbuden-Zauber voll im Trend liegt? Weil allein damit das zeitgenössische
Theater mit der Bilder- und Tonflut der modernen Medien konkurrieren kann?
Bei allem Respekt vor Publikumsgunst, der süperbe Wilson lieferte — wie wohl auch konzipiert — das perfekte Satyrspiel für die diesjährige Theater-Olympiade des deutschsprachigen Schauspiels. Solche Anreger, Verfremder, Verstörer und Neumontierer der Szene braucht das Theater. Sie beleben jedes Festival. Vom Rande her. Auch der bizarre „John Gabriel Borkmann" nach Ibsen in der Regie von Frank Castorf (Deutsches Theater Berlin) gehört dahin, wenn nicht gar „Hamlet/Hamletmaschine" von Heiner Müller (Deutsches Theater Berlin in der Regie des Autors), dieser Sitz-Marathon mit der auf acht Stunden verteilten Absage an Hamlets Lebenstauglichkeit. Selbst Frank-Patrick Steckels in Masken zelebrierter „Timon aus Athen" von Shakespeare (Schauspielhaus Bochum) und Harald Clemens rustikaler „Korbes" von Tankred Dorst (Theater Basel) lassen sich hier zuordnen.
Wenn man den Juroren Glauben schenkt, dann
sind die zwölf von ihnen zum Treffen geladenen Inszenierungen nicht einfach das
Resümee der laufenden Spielzeit gewesen (abgesehen vom besonderen Bonus für
Heiner Müller, der im März 1990 Premiere hatte), sondern die Spitzenleistungen deutschsprachiger
Regie- und Schauspielkunst. An sie müssen wir uns halten. Sie helfen vielleicht
beim Nachdenken über die Frage, was Theater heutzutage eigentlich soll, bestenfalls
kann.
Manchmal scheint es beschaulicher
Selbstverliebtheit verfallen. („Das Wintermärchen" von Shakespeare in der
Regie von Luc Bondy an der Schaubühne Berlin hatte mehr mit der schönen
Eloquenz des sizilianischen Königs Leontes zu tun als mit der kritischen
Bloßstellung eines starrköpfigen Tyrannen.) Es ist derzeit durchweg weder Aufruf
noch Anstoß. Es will kaum Aufklärer sein. („Die Räuber" von Schiller in
der Regie von Alexander Lang am Schiller-Theater Berlin veräppeln gnadenlos,
was einst mit heiligem Ernst stürmte und drängte.)
Das deutschsprachige Theater — so
verdichtet sich ein Eindruck — schätzt sich glücklich und wird geschätzt, wenn
es ihm gelingt, die nun einmal gegebenen, dem Menschen scheinbar ewig aufgezwungenen
Geld-Verhältnisse möglichst originell hinzubildern. Zu beobachten von „Timon
aus Athen" über „Nora" und „John Gabriel Borkmann" bis
„Korbes" und „Mütter und Söhne" von Javier Tomeo (Schaubühne Berlin,
Regie Felix Prader).
Das griffigste Beispiel zeigte Peter Zadek.
Sein „Ivanov" ist vor eine indifferente graue Leinwandfront gestellt, also
aus dem Ende des 19. Jahrhunderts in Allzeitlichkeit gehoben (Bühnenbild: Peter
Pabst). Das Spiel entfaltet sich minutiös psychologisch realistisch und
enthüllt menschliche Absurdität in des Dichters naturalistischem Korsett. Gert
Voss (Ivanov) zeichnet das Porträt eines verschuldeten beamteten Jammerlappens,
der nicht begreift, wie brutal er mit seiner kranken Frau umgeht, dem
Judenmädchen Sarah (Angelika Winkler), und der nach deren Tode die
schwärmerisch-groteske Liebe der jungen Sascha (Anne Bennent) nicht mehr
erwidern kann.
Ewig teuflischer Kreislauf um Geld und Liebe,
in dem sich die Menschen verschleißen, gestern wie heute. Und kein Ausweg. „Der
Verstand", sagt Lebedev, der Vater Saschas, „läßt sich Jahrhunderte Zeit".
Bestürzende Tschechowsche Wahrheit. Mit ihr dennoch immer wieder Rat und
Hoffnung zu verbinden — zu nichts Geringerem ist Theater aufgerufen.
Seine Mittel sind nach wie vor
vielfältig und durchaus nicht verbraucht. Selbst romantische Entrückung kann —
wie in „Märchen in Deutschland", lebensweise und emotionsreich erzählt von
Bernhard Minetti (Schiller-Theater, Regie Alexander Lang) — für einen Abend
Entspannung, Trost und Erbauung bringen.
Neues
Deutschland, 23. Mai 1991