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Freiheit, das ist eine zugige Gegend

Interview mit Thomas Thieme

 

 

• Thomas Thieme, Sie spielten oder spielen erfolgreich in Ham­burg und München, in Hannover und Salzburg, in Berlin und Wei­mar. Ein Unbehauster?

Ich bin Thüringer. Nicht nur von der Geburt her. Ich habe mit dieser Landschaft zu tun.

Seelisch?

Ja. Diese Region hat Mitte, Maß.

Klingt wie Mittelmaß.

Nein. Mittelgebirge - das schafft Zugänglichkeit. Hier muss sich kei­ner an etwas abarbeiten, das ex­trem hoch oder flach ist. Das macht freundlich, glauben Sie mir.

Nur freundlich?

Nein. Manchmal melancholisch. Man ist ja nicht immer froh dar­über, dass man überall so sanft ein­gebettet ist.

• Sie waren lange Zeit Ensemble-Schauspieler, sind es aber seit Jah­ren nicht mehr.

Freiheit, das ist eine zugige Ge­gend. Aber als es für mich so weit war, da fühlte ich mich wie ... ja, wie neu geboren.

Neugeborene sind die hilfloses­ten Wesen.

Bitte, wenn Sie es noch größer mögen: Machen wir aus der Neuge­burt eine Auferstehung. Ich fühlte mich plötzlich sehr, sehr kräftig und unbelästigt. Nie wieder ans Schwarze Brett gucken müssen, was man als nächstes spielt. Nicht mehr länger Urlaubsscheine ausfül­len müssen ...

Das muss man sich leisten kön­nen.

Nein, man muss nur fest der Überzeugung sein, dass man sich das leisten kann. Und man darf das wirklich nicht mehr aushalten kön­nen.

Als nächstes sagen dann so er­folgreiche Leute wie Sie: Und Glück muss man haben.

Und Glück muss man haben. Ich hatte es. Mit den Jahren kam dann wieder die natürliche Sehnsucht nach der Truppe, denn dieser Beruf ist ein Ensemble-Beruf. Aber ich se­he kein Land, wo ich für länger ankern könnte. Der Gemeinsinn hat keinen langen Atem mehr.

Sie gelten als schwierig.

Ach so? Früher habe ich den Geist, der mir an einem Theater vorschwebt, immer nur erhofft, jetzt verlange ich ihn - oder haue wieder ab! Ich gehe nur noch frei­willig unter mein Niveau, nicht mehr aus Angestelltenzwang.

Sehen Sie: Arrogant, könnten jetzt einige sagen.

Was ich zuletzt in einem festen Engagement erlebte, war Ensem­ble-Lüge. Man konnte einander nicht mehr sehen, gab das aber nicht zu. Man zwang sich zur Freundlichkeit. Man spielte über­haupt nur noch Theater. Es ist nicht gut, wenn man unerreichbar ist für die Wahrheit des eigenen erbärmli­chen Zustandes.

Da sind Sie lieber gegangen?

Ja, und das war nicht arrogant, das war kollegial: Warum den fal­schen Frieden stören, wo der von anderen so gern erlitten wird.

In den letzten Jahren waren Sie auf der Bühne sehr oft ein Mann des starken, faszinierenden Mono­logs: Richard III. in Salzburg, King Lear in Antwerpen, Faust in Wei­mar, Othello in München.

Ich spielte Einsame und war da selber einsam. Aber ich sehne mich nach dem Dialog. Auch vor und nach der Aufführung.

Ist das Publikum während des Spiels Ihr Feind?

Sie meinen den Oliver-Kahn-Effekt: Erst wenn ich die Banane an den Kopf kriege, werde ich richtig gut?

Ja.

Stimmt schon: Eine der Triebfe­dern meiner Arbeit ist Aggressivi­tät. Ich bin kein wirklich sehr guter Unterhaltungskünstler, dazu fehlt mir die Ader fürs ungehemmt Lo­ckere. Dazu fehlt mir das Talent und das Interesse am Pointierten.

Der Showteil Ihrer Arbeit ist Ih­nen doch aber bewusst.

Und ich verweigere mich dem auch nicht. Aber ich bin kein Ver­wandlungskünstler. Ich konnte noch nie jemanden nachmachen, außer den Claus Peymann, und den kann in der Branche jeder.

Aber Sie suchen doch auf der Probe die fremde Figur.

Ich suche und suche und - lande immer bei mir. Ich schlage um mich - mit mir selber. Man ist ja stets nur das, was einem die Natur vorgibt.

Man hat immer nur eine einzige Möglichkeit?

Und das ist die, die man lebt, es gibt keine andere. Es gibt ein En­semble von objektiven und subjekti­ven Bedingungen, die fügen sich zu dem, was man tut. Man wird nicht Sprinter oder Langstreckenläufer aus fröhlicher Willkür. Man wird es aus Einsicht in das, was einem zu­geteilt ist. So gesehen, ist man, ob einem das passt oder nicht, immer auf dem Gipfel seiner Möglichkei­ten. Der Rest ist Phantasie.

Theater - was soll's überhaupt?

Theater muss den Humanitätsge­danken weitertragen, also in höchs­tem Maße zivilisiert sein, aber zugleich muss es subversiv sein, denn es gibt ja nun wirklich nichts Lang­weiligeres als unsere Gesellschaft.

Langeweile ist der Preis von ge­regeltem Leben?

Ordnung und Subversion machen sich immer gegenseitig Stress, viel­leicht so wie Freiheit und Gleich­heit.

Sind Sie Schauspieler geworden, um jenen Mord begehen zu können, der einem anständigen Menschen im Leben verwehrt bleibt?

Unbedingt. Das war der entschei­dende Impuls dafür, dass ich ans Theater ging und nicht in die Archi­tektur.

 Der Theatermensch Thieme ra­ckert von Hauptrolle zu Hauptrolle, dem TV-Darsteller Thieme reicht weit weniger, um prominent zu sein.

Ist nicht mein Problem. Ich kenne allerdings Kollegen, die dann, wenn sie ein Restaurant betreten und nicht erkannt werden, den »Afrika­nischen« kriegen ...

Den »Afrikanischen«?

Naja, die rasten aus. Also: Das ist mein Ding nicht. Von Bewunderung bin ich nicht abhängig. Meine Eitel­keiten liegen woanders.

Sie wollen doch auch geliebt wer­den.

Auf der Bühne? Das unbedingte Geliebt- und Gelobtwerden wollen ist das unverwüstlich Kindliche in uns. Je älter ich werde, desto komi­scher finde ich das.

Irgendwann muss sich das, was man tut, gleichsam selber loben?

Ich will, dass meine Arbeit aner­kannt wird. Man muss das Resultat dieser Arbeit überhaupt nicht lie­ben, aber ich reagiere verstärkt all­ergisch, wenn mir das Publikum den Respekt verweigert. Manchmal bin ich da mitten auf der Bühne für .Momente unkontrolliert, und ich will das auch gar nicht abstellen.

Nennen Sie bitte ein Beispiel.

Beim Münchner »Othello«, in der Übersetzung von Feridun Faidoglu und Günter Senkel, sagen die Mili­tärs von Venedig ziemlich schweini­sches Zeug. Wenn ich als Othello vermeintliche Sätze dagegen sage und Zuschauer da applaudieren, muss ich schon klarstellen, dass ich nicht ihr Kombattant bin.

Ist das nicht furchtbar in Ihrem Beruf: Jede Vorstellung wiederholt, was auch gestern schon stattfand?

Ach, Ihre Zeitung wiederholt auch nur, was schon gestern ver­meldet wurde.

Die Wiederholung ist die eigent­liche Prüfung, ob man wach blieb?

Eben. Unter immer gleichen Be­dingungen neue, andere Haken schlagen, das ist es doch. Jeden Abend anders sein!

Das heißt für Sie?

Ich betrete die Bühne unvorberei­tet, ich will nicht wissen, was im nächsten Moment passiert. Ich arbeite nicht gegen die Stimmung, die ich gerade habe. Ich nehme meine jeweilige Verfassung ernst, ich benutze sie.

Die Tagesform wechselt.

Ich nehme jede Tagesform mit auf die Bühne. Die Aggressionen und Depressionen.

Das sagt sich so einfach. Man steht doch ohne Haltegriffe da.

Was haben Haltegriffe mit Gefüh­len zu tun?

Vertrauen zu sich selber auszu­bilden, das dauert und kostet Kraft.

Ich habe nicht mehr diese peinli­che Angst davor, unvorhersehbar zu sein. Und meine verehrten Mit­spieler kennen mich inzwischen.

Sie haben die DDR 1983 nach ei­nem Ausreiseantrag verlassen. Zi­tat Thomas Thieme: »Ich bin nicht vor Repressionen abgehauen, son­dern vor der Bevölkerung.«

Ich habe an der Selbstzensur ge­litten, an dieser Behinderung durch graue, triste Atmosphäre. Immer musste man irgend ein blödes Hin­dernis beseitigen. Im »Tell« gibt es den Satz »Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern«. Der Regisseur in Halle wurde beauftragt, so zu in­szenieren, dass an der Stelle keiner applaudiert. Das ist doch blöd! Ir­gendwann hatte ich genug.

Aber trotzdem war das keine Ausreise wegen gravierender politischer Schikane.

Nein. Alles fing ja gut an: viele Rollen, viele Getränke. Zittau/Görlitz, Magdeburg, Halle. Irgendwann wusste ich aber, es gibt nur zwei Al­ternativen: Berlin oder Trinkerheil­anstalt. Berlin klappte nicht, Trin­kerheilanstalt hätte garantiert ge­klappt. Da wollte ich aber ebenso wenig hin, wie ich in Halle bleiben wollte. Also musste ich raus.

Wie haben Sie drei Jahre Warten auf die Ausreise ausgehalten?

Merkwürdig: Im Grunde bin ich weich, aber wenn's Druck gibt, baue ich Muskulatur auf.

Druck auch im Westen?

Klar, in Frankfurt bei dem wun­derbaren Adolf Dresen fiel die Aus­rede weg: Die lassen mich nicht! Jetzt musste ich ran, musste es mir zeigen! Auch den »Besoffskis« in Halle. Nicht, dass die sich die Hände reiben: Thieme? Spielt in Kleinkleckersdorf Nebenrollen und ist wieder genau so besoffen wie wir!

Was dachten Sie, als die Mauer fiel?

Schöne Bescherung: Jetzt kom­men die Arschgeigen, die ich nun überhaupt nicht vermisse. Für die Millionen anderen habe ich mich gefreut. Ich wusste: Einige würden, wie ich, sehr lange brauchen, aber dann doch merken, dass es ihnen hier auch nicht gefällt.

Sind Sie das, was man gemein­hin einen politischen Menschen nennt?

Ich verehre Ernst Thälmann.

Wie bitte?

Das ist der Reflex auf den An­sturm von Haltungslosigkeit, den ich überall erlebe.

Man ist zu nichts verpflichtet.

Und deshalb erinnere ich mich an Zeiten, in denen es noch Folgen hatte, wenn man sich für eine Sache entschied. Geradlinigkeit des Gemüts, die den Zweifel nicht kennt, Geradlinigkeit, die nicht jedes Problem zu Tode debattiert - das ist eine Sehnsucht. Das schwarz-grüne Bürgertum schwimmt ja im Wehleidigen, im Verwöhnten, im selbstbezüglichen Mittelstandssumpf. 

Was Sie ansprachen, diese Geradlinigkeit, unangetastet im Gemüt bleiben zu dürfen - das ist auch ein gefährlicher Trost, Trost durch Ideologie. Freiheit wiederum macht auch viel kaputt. Weil sie zu gar nichts mehr zwingt - auch zu nichts Gutem.      

In der DDR mussten wir am 1.Mai im Tross zwei Stunden gefühllos mitlatschen, ehe wir uns endlich gefühlvoll besaufen konnten. In diesem Jahr, zum 1. Mai, sind meine Freundin und ich auf den Ettersberg gefahren, zum KZ. Und vorher haben wir ein paar Rosen hingelegt, am Thälmann-Denkmal. Wir haben etwas empfunden dabei.        

Freiheit - doch nicht nur eine zugige Gegend. Auch wunderbar offnes Feld. Herr Thieme, Danke für dieses Gespräch.         

 

Neues Deutschland, 10./11. Juli 2004

Interview: Hans-Dieter Schütt