„Gedeckte Tische“ von Anna Langhoff in der Baracke des Deutschen Theaters Berlin, Regie Sewan Latchinian

 

 

 

 

Heimat – ein Mantel aus Löchern

 

Theater hat noch Sinn. Thea­ter kann sich noch sozial en­gagieren. Die junge Anna Langhoff (28) führt es vor. Mit einem reißerischen, einem poetischen Stück über Asylanten in Deutschland. Ihr Erstling „Gedeckte Tische", uraufgeführt in einer Inszenierung Sewan Latchinians in der Baracke des Deutschen Theaters in Berlin, erschüt­tert. Seelisches Elend, Ver­zweiflung von Heimatlosen in einem deutschen Asylantenheim. Ich fürchte, die Autorin, zu Hause in Berlin-Kreuzberg, übertreibt nicht.

Zunächst einmal: Da meldet sich ein Talent. Das Vermögen imponiert, Menschen zu ent­werfen, Charaktere zu formen. Und vor allem: Aus Zuständlichem, aus exponierenden Mo­nologen zum Konflikt und zu einer Fabel zu finden. Denn auf die Fabel kommt es an. Das forderte schon Aristote­les, und Brecht dachte da gleich. Man mag das heutzuta­ge konventionell schelten. Aber es sorgt für Dramatik. Es macht das Theater aus!

Gewiß, vor allem im zweiten Teil scheinen die Fäden der Verwicklung manchmal etwas gewollt. Aber Regisseur Latchinian sorgt für Wahrschein­lichkeit. Mit einem vorzügli­chen Ensemble. Wenn die Roma-Familie aus Rumänien (Elsa Grube-Deister, Horst Weinheimer, Kathi Liers), das jugoslawische Ehepaar - er Serbe (Thomas Bading), sie Kroatin (Cathlen Gawlich) - , das russische Ehepaar (Eva Weißenborn, Horst Lebinsky), das jüdische Ehepaar - er Ukrainer (Michael Schweighöfer), sie Aserbaidshanerin (Franziska Matthus) - und der Pole Kuzcewski (Uwe Dag Berlin) für eine „Kennenler­nen"-Feier im ungeliebten Heim die Speisen ihrer Hei­mat bereiten, braucht es schon allerhand Geschicklichkeit der Regie, ob all der Vorberei­tungen den roten Faden der Handlung nicht zu verlieren. Latchinian schafft das. Die notwendigen naturalistischen Details werden bedient, ohne den eigentlichen, den realisti­schen Konflikt zu überdecken.

Menschen unterschiedlicher Nationalität und sozialer Herkunft haben ihre Aggressionen mitgebracht, haben neue aufgebaut, tragen sie nun auf kleinstem Raum aus. Enttäuschung. Haß. Diebstahl. Gehässigkeit. Wenig Liebe. Die Asylbewerber aus den ehemals sozialistischen Ländern, jeder von ihnen ein kaum nachvollziehbares Schicksal auf dem Buckel, werden von der deutschen Sozialarbeite­rin Mertel betreut. Diese Frau ist in der Gestaltung von Kät­he Reichel eine wahre Seele von Mensch. Sie kann die Ver­hältnisse nicht ändern, aber sie stellt sich ihnen in wahr­haft selbstloser Tapferkeit. Ihr Engagement stößt auf wenig Entgegenkommen. Selbst der ruppige Hausmeister (Horst Manz) ist ihr keine Hilfe. Und ihre Idee, die zusammenge­würfelte Gemeinschaft durch eine Feier sich näherzubrin­gen, scheint fast grotesk. Kä­the Reichel zeigt den himmli­schen Idealismus dieser Mer­tel, ohne die Figur zu denun­zieren. Sie führt deren tragi­sche Vereinsamung vor, lässt ihre Betroffenheit mitempfin­den, ihre Angst, als sie von Feinden der Asylanten als „rote Sau" verfolgt wird. Er­regende Schauspielkunst. Sehr unmittelbar überdies, weil hautnah in der Baracke, wo keine Distanz ist zwischen Bühne und Zuschauer. Be­drückung dann, wenn die er­mordete Mertel von dem Rus­sen Pajewskij (Lebinsky) her­eingebracht wird.

Der Verdacht fällt auf den Polen. Und Pajewskij, der ein Bekennerschreiben von Neonazis bei der Toten gefunden hatte, entlastet den Polen nicht, weil er fürchtet, zu seinen Ungunsten in die Sache hineingezogen zu werden. Denn im nämlichen Moment erhält er die Nachricht, daß er einen deutschen Paß bekom­men wird. „Wahnsinn" ruft er, „ein Deutscher zu sein!"

Schrill, beklemmend, auf­rüttelnd dieser Theaterabend. Aufklärung im besten Sinne. Keine Lösung - wie denn auch? - des Problems, das Eu­ropas neokapitalistische Zerrissenheit spiegelt. Viel Bei­fall.

 

 

 

Neues Deutschland, 29./30. Januar 1994

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