„Das Leben ist Traum“ von Calderon im Deutschen Theater Berlin, Regie Friedo Solter

 

 

Versuch mit Calderon

 

Mit geradezu gewalttätigen Donnerschlägen (Musik: Uwe Hilprecht) hebt der Abend an. lm Deutschen Theater wird Pedro Calderon de la Barcas (1600 bis 1681) Schauspiel „Das Leben ist Traum" als ein Spektakel in kräftigen Tönen und Farben (Ausstattung: Hans-Jürgen Nikulka) gespielt. Eine Spiegelwand zur Linken, rechts eine weiße Leinwand, beide über Eck zu bewegen, unterschiedlich beleuchtet, zuweilen mit Bildprojektionen illuminiert, geben den gewiß sehenswerten, phantastischen, aber wenig realitätsbezogenen Spielraum ab.

Mir scheint, Friede Solters durchaus begrüßenswerter Versuch, mit seiner Inszenierung der sozialistischen Bühne einen Zugang zu diesem Stück Calderons zu erschließen, wäre vielleicht überzeugender ausgefallen, wenn er seine Lesart deutlicher gemacht und weniger durch äußere theatralische Mittel verdeckt hätte.

An Calderon, der mit Werken wie „Der Richter von Zalamea" oder „Dame Kobold" längst zum Klassiker des Welttheaters wurde, interessieren uns ähnlich wie an Shakespeare seine in unsere Zeit reichenden realistisch-humanistischen Botschaften. Nicht immer liegen sie gleich an der Oberfläche.

Seine 1635 in Madrid uraufgeführte symbolisch-märchenhafte Geschichte „Das Leben ein Traum" (oder „Das Leben ist Traum", wie es in der neuen, der Aufführung des Deutschen Theaters zugrunde liegenden Übersetzung von Fritz Rudolf Fries heißt) gilt der Literatur- und Theaterwissenschaft vielfach nur als eine Art religiösen „Tugendspiegels" zur Prinzenerziehung. Ließe sich im Stück tatsächlich nicht mehr und anderes entdecken als „die kontemplative, metaphysische, auf Erhalt einer angenommenen göttlichen Weltordnung bedachte Auffassung des Jesuitenzöglings und Hofkaplans Calderon", wie man dieser Tage las, dann wäre es der Mühe einer Inszenierung tatsächlich nicht wert.

Aber ich lese die Fabel anders. Sie erhellt, daß der Dichter auch hier mit philosophischem Weitblick ans Werk gegangen ist.

Ein König, Basilius, hält seinen Sohn Zygmunt seit dessen Geburt in einem Turm gefangen. Als mittelalterlicher Astrologe und Wissenschaftler will er Unheil verhüten, denn bei der Geburt des Sohnes kam die Mutter um, und auch sonst schien alles dafür zu sprechen, daß dieser Nachkomme ein Bösewicht werde. Jetzt aber, da Basilius alt geworden ist und nahe Verwandte anfangen, um die Nachfolge zu raufen, versucht er ein Experiment.

Er organisiert seinem Sohn einen „Traum" — dergestalt, daß er ihm fürs praktische Regieren probeweise seinen Thron überläßt. Herrscht der Sohn human, meint der König, ist alles gut; treibt er's tyrannisch, kann man Zygmunt immer noch einreden, alles sei nur geträumt gewesen.

Der Sohn besteht die Probe nicht. Basilius sperrt ihn wieder ein. Doch nun meldet sich das Volk zu Wort und befreit Zygmunt. Das Königreich erzittert. Aber siehe — des Vaters Praxiskriterium, das der Sohn für einen Traum hatte halten müssen, hat ihn geläutert! Ein Traum war mein Lehrer, bekennt er.

Hier sehe ich den des Spielens werten Klassiker: Das Leben ist eigentlich erst dann wirklich Leben, wenn es sich von realitätsbewußtem Träumen belehren läßt. Dies scheint mir eine dem Mittelalter weit vorauseilende dialektische Erkenntnis. Sie kommt allerdings hinter den die Vorgänge mehrfach verfremdenden Spielmontagen Solters leider nicht klar zum Vorschein. Seine drastischen Mittel überlagern bisweilen den Zauber der Idee. Er bekennt sich wohl auch nicht entschieden zu ihr. Am Schluß läßt er unmotiviert den Narren aus dem Dunkel ein Hohngelächter anstimmen.

So bleiben faszinierende, im einzelnen bewundernswerte szenische Lösungen isoliert, etwa der als Entpuppung gespielte Eintritt Zygmunts ins Leben. Auch ausgezeichnete schauspielerische Leistungen ordnen sich keinem überzeugenden Grundeinfall zu. Solter führt seine Darsteller zu immer wieder neuen Haltungen, variiert ihre Diktion, was das Spiel interessant macht, ihm Tempo und Rhythmus gibt. Wobei die mundgerechte neue Übersetzung vorteilhaft ist. Aber letztlich bleibt doch ein Eindruck von Unentschiedenheit.

Ulrich Mühe (Zygmunt) zeigt, was möglich wäre. Anfangs zwar, gefangen im Turm, halb Mensch, halb Tier, ahmt er manieriert die Sprechweise anderer nach, was den Sinn des Monologs überdeckt. Sein Staunen dann, mit dem er sich als Herrscher begreift, wobei er das Publikum zum Partner macht, ist von vergeistigter Leichtigkeit und Eleganz. Wundervoll komisch, wie er verzückt auf Stella reagiert, die Nichte des Königs (Simone von Zglinicki). In jeder Geste Mühes und in seiner Sprache lebt unaufdringlich auch Zeitgenössisches.

Der weltweise Basilius von Thomas Neumann trippelt und argumentiert als ein noch munterer Greis von eigensinniger Originalität. Dagmar Manzels Rosaura ist eine selbstbewußte Frau, präzis, kräftig, sehr wandlungsfähig im Ausdruck. In weiteren Rollen überzeugen Gerhard Lau (Kerkermeister), Frank Lienert (Narr Clarin) und Michael Schweighöfer (Astolf).

 

 

Neues Deutschland, 29. Oktober 1985