„Die Übergangsgesellschaft“ von Volker Braun am Maxim Gorki Theater Berlin, Regie Thomas Langhoff

 

 

 

Aus synthetischen Hüllen gepellt

 

 

Ein hochbetagter Herr namens Wilhelm Höchst sitzt auf der Vorbühne des Maxim Gorki Theaters und liest Zeitung. Ihn umgeben Folienkokons, worin — wie sich herausstellt — die drei Schwestern und weitere Figuren aus dem gleichnamigen Stück Anton Tschechows „eingesponnen" sind. Vorerst ahnten wir weder dies noch daß der Veteran, der nun so verschmitzt den Beginn der Vorstellung kommentiert, ein Revolutionär ist und dabei in jungen Jahren ein Heißsporn war mit gewissen anarchistischen Zügen. Zwar ist er in die Jahre und also zur Ruhe gekommen, aber — so wird sich zeigen — er ist noch rüstig genug, um Spuren zu hinterlassen bei den Kindern seines Bruders, bei denen er lebt. Das sind ebenfalls drei Schwestern, allerdings aus der Feder Volker Brauns.

Der dramatische Einfall des Autors, ausfabuliert in seiner Komödie „Die Übergangsgesellschaft", vorzüglich inszeniert von Thomas Langhoff, ist frappierend. Braun vergleicht Tschechows „Schwestern" mit denen seiner eigenen literarischen Erfindung. Des russischen Dichters Frauengestalten sind voller Sehnsüchte. Sie träumen von einem sinnerfüllten Leben, das sich zu ihrer Zeit nicht verwirklichen ließ. Brauns Schwestern hingegen scheinen zunächst bar aller Träume zu sein. Daß es in Wahrheit nicht so ist, macht der Autor dem Zuschauer mit einem theatralischen Kunstgriff sichtbar, der freilich nicht forcierter Künstlichkeit entbehrt.

Doch bleiben wir noch beim Vorspiel: Die Figuren des historischen Dramas — Olga, Mascha, Irina, Bruder Andrej, Kulygin und Werschinin — erwachen, pellen sich aus den synthetischen Hüllen und sprechen dabei fast wortwörtlich originale Tschechow-Texte. Langhoff läßt diese für die Zeit des vorrevolutionären Rußlands allzu gläubig-schwärmerischen Sentenzen von einem verklärten Lebensideal in realistischer Brechung leicht ironisiert spielen. Dann wechselt die Szene. Die Figuren verwandeln sich in DDR-Bürger der siebziger Jahre.

Familie Höchst trifft sich in ihrem Heim (Bühnenbild: Pieter Hein), einem ehemaligen „Herrenhaus" mit wechselvoller Vergangenheit. Irina, die jüngste der Schwestern, hat Geburtstag. Walter, der Bruder, Leiter eines volkseigenen Betriebes, kommt zu Besuch. Er bringt Mette mit, seine Geliebte, eine Schauspielerin. Sie beobachtet die Leute, zu denen sie geladen ist — den sich zurückhaltenden Wilhelm, die beharrlich auf Ordnung dringende Lehrerin Olga, die seltsam tagblinde Historikerin Mascha, die räsonnierende Telefonistin Irina, den Dr. Bobanz, Maschas Mann, hinzu kommt der Schriftsteller Anton.

Mal direkt, meist aneinander vorbei, begibt sich in dieser Geburtstagsrunde konventionelle Konversation: Sarkasmen, Borniertheiten, Sachkundiges, Vernünftiges bunt durcheinander. Irina, offenbar unglücklich verliebt, hadert mit sich und der Welt. Der ungeduldige Fahrer Walters verschafft sich einen unliebsamen Auftritt. Das Barometer wohltemperierter guter Laune fällt, die Atmosphäre wird trist, langweilig, ungemütlich.

Mette geht dagegen an und provoziert — dies nun der Kunstgriff — zu einem ungewöhnlichen Gesellschaftsspiel. Sie schlägt vor, jeder möge sich seiner verdrängten, seiner uneingestandenen, stillen und schönen Träume bewußt werden und sie im Fluge der Gedanken aussprechen. Ihr gelingt tatsächlich, die Zaudernden zu animieren. Was sich bei diesem „Fluge" offenbart, ist eine phantasiearme, hektisch hochgedrehte, letztlich enttäuschend kärgliche psychodramatische Selbstbespiegelung. Walter verfällt sogar in einen alptraumartigen Rausch anarchistischer Aggressionen.

Haben Brauns Figuren wirklich keine hehren Ideale? Keine Zukunftsvisionen? Sie sind kaum wahrnehmbar. Aber der Autor verweist auf die Möglichkeiten der Schwestern, sich ihrer wieder bewußt zu werden, beispielsweise unter dem Eindruck solcher Persönlichkeiten wie Wilhelm. Dieser erfahrene Kommunist nämlich ist — so ich das richtig empfinde — Brauns „Seher" im antiken Sinne. Am nächsten Morgen jedenfalls, als die Schwestern, ihre Angehörigen und Gäste die letzte Betroffenheit über den vorangegangenen Abend von sich schütteln, hat Wilhelm einen Tagtraum. Vielleicht angeregt durch die Liebe, die er in der Nacht bei Mette gefunden hat, gibt dieser Mann, der stets das volle Leben suchte und lebte, für die, die es hören wollen, sein Vermächtnis preis. Nachsinnend über die Kämpfe seiner Klasse, über die Sieghaftigkeit der Revolution, über Opfer, über Irrtümer, über seinen im Grunde bescheidenen Platz in diesem Ringen, beschwört er — und da berühren sich bei Braun im Unterschied zu Tschechow Traum und Realität — das Bild einer für die bessere Welt kämpfenden freien Persönlichkeit.

Aber Braun will selbst hier keinerlei Romantik. Sofort bricht er diese letzte große Botschaft Wilhelms mit dem tragischen Irrtum der Irina. Sie beginnt ihre emanzipatorische Selbstfindung an diesem Morgen nämlich mit einem Feuer, das sie in anarchistischer Anwandlung in die elterliche Bleibe legt. Zu deuten wäre dies freilich auch, ich merke es an, als Absicht, mit dem alten „Herrenhaus" endgültig und radikal Schluß zu machen.

Wie auch immer: Brauns 1982 geschriebene satirische Komödie unterzieht nach Maßgaben Tschechows und mit einigermaßen absurden Mitteln eine fiktive Familie unserer Tage einem theatralischen „Härtetest". In der grotesken Ubertreibung zeigt sich, inwieweit die einzelnen Familienangehörigen und ihre Gäste den hohen Ansprüchen der Zeit gewachsen sind. Der Autor attackiert in drastischer Zu- und Überspitzung den zählebigen Aberglauben, daß neue soziale Verhältnisse automatisch auch zur Erfüllung aller Träume und Sehnsüchte führen. Seine schlichte Wahrheit ist: Auch und gerade in der sozialistischen Gesellschaft muß sich der einzelne immer wieder aktivieren und in die revolutionären Prozesse einbringen, so historisch relativ das stets nur sein kann und so mühselig dies dem einen oder anderen scheinen mag. Rigoros und schonungslos die eigenen Grenzen ausschreiten, über sich hinauswachsen, ist Herausforderung und Möglichkeit für jeden, der zur Veränderung der Welt beitragen will.

Zu solch poetischer Kunde vorzudringen, macht der Dramatiker seinen Zuschauern nicht eben leicht. Er verbarrikadiert sie regelrecht hinter allerhand kaum zu enträtselnden Metaphern. Irgendwie hat der Feuerkopf Wladimir Majakowski Pate gestanden, aber ich bin gewiß, er hätte zu weniger resignativer Weitschweifigkeit und zu mehr nachvollziehbarer Unmittelbarkeit geraten.

Daß sich die vier Teile dieser durchweg filigranen dramatischen Konstruktion bündig zu einem Gesamtwerk fügen, ist der souveränen Regie Thomas Langhoffs zu danken. Einen Lapsus indessen konnte der Regisseur nicht korrigieren. Gedacht wahrscheinlich als eine amüsante Kreuzung von Shakespeareschem Narren und Schillerscher Kanaille ist der Fahrer Franz (Wolfgang Hosfeld) tatsächlich ganz einfach ein armseliger poetischer Zwitter.

Überzeugend Langhoffs ausgeprägter Sinn für subtile Stimmigkeit der Szene und für beredte realistische Details. Er erweckt den Eindruck bewegten Spiels selbst dort, wo der Autor redselig auf der Stelle tritt. Hervorragend seine Schauspielerführung. Ob Albert Hetterle (Wilhelm), Monika Lennartz (Olga), Ursula Werner (Mascha), Swetlana Schönfeld (Irina), Ruth Reinecke (Mette), Klaus Manchen (Walter), Uwe Kockisch (Anton) oder Hilmar Baumann (Dr. Bobanz), sie alle entdecken und behaupten widersprüchliche Charaktere, sparen deren Ecken und Kanten nicht aus, diffamieren sie aber auch nicht, sondern liefern das freundlich-kritische Verständnis des zeitgenössischen Darstellers mit.

Ohne Zweifel ist diese satirische Komödie ein zwar auffälliger, aber eben nur ein Stein im Mosaik unserer sozialistischen Dramatik. Daß sich eine Berliner Bühne dazu unternehmungsfreudig verhält, ist zu begrüßen. Das Premierenpublikum bedachte die Aufführung mit viel Beifall.

 

 

Neues Deutschland, 8. April 1988