"Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" von Bertolt Brecht am Berliner Ensemble, Regie Heiner Müller

 

 

Denn so ist eben der Mensch

 

 

Ovationen für das Berliner Ensemble. Für Martin Wuttke, den faszinierenden Hauptdarsteller. Und für Heiner Müller, den überragenden Regisseur. Bertolt Brechts Politparabel "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" – glanzvoller Höhepunkt dieser an bewegenden Erlebnissen armen Berliner Saison. Das klassische antifaschistische Stück in souveräner Interpretation zu einer Zeit, in der in den Medien nationalistisches, ja faschistisches Denken und Verhalten wieder gesellschaftsfähig geredet wird. Es tut gut zu wissen, dass streitbarer Humanismus auf deutscher Bühne noch eine Heimstatt hat.

 

Als Brecht 1941 in Finnland seine "große historische Gangsterschau" schrieb, beherrschte der deutsche Faschismus noch ungebrochen fast ganz Europa. Der Dichter wollte versuchen, "der kapitalistischen Welt den Aufstieg Hitlers dadurch zu erklären, dass er in ein ihr vertrautes Milieu versetzt wurde". Geeignet dafür schienen ihm mafiose Verhältnisse in den USA. Er erfand eine Gang, die sich unter Führung Uis als Beschützer der Kleinhändler Chicagos ausgibt und an die Macht mordet. Mit dieser kühnen Verfremdung erzählt Brecht die Korrumpierung Hindenburgs durch die Nazis, den Reichstagsbrand-Prozeß, die Röhm-Morde, die Ermordung von Dollfuß und den "Anschluß" Österreichs. Er macht die großen politischen Verbrecher wie Hitler, Göring und Goebbels lächerlich, ohne ihre Gefährlichkeit zu bagatellisieren. Um den Vorgängen jene Bedeutung zu geben, die ihnen zukommt, forderte er, sie im großen Stil darzustellen.

 

Worauf sich Heiner Müller voll einließ. Das zu Lebzeiten Brechts nicht gespielte, von Peter Palitzsch 1958 in Stuttgart mit Wolfgang Kieling uraufgeführte, ein Jahr später von Palitzsch und Wekwerth am Berliner Ensemble mit Ekkehard Schall inszenierte Stück wird jetzt von Müller als elementares soziales Ereignis gezeigt. Mittel schauspielerischer Groteske verbindet er überzeugend mit denen der Oper, musikalisch auch mit Rock-Rhythmen und dem Lied operierend. Dabei konzentriert er sich auf das ihm Wesentliche. Mit Goethes Ballade "Der Erlkönig" in der Vertonung Schuberts, einigermaßen überraschend eingespielt, exponiert er sein Motto: die Verführbarkeit des Menschen. Im Verlaufe der in schnellem Tempo gebotenen Handlung lässt er dies Motto immer wieder anklingen. Etwa wenn er einen blonden Herrn als Bariton im Heino-Look an die Rampe schickt, der sich entkleidet und in werbend-heldischer Pose zu verführerischem Plakat erstarrt.

 

Man mag fragen, ob es der Aufführung zugute kommt, dass Müller den Prolog, mit dem die Figuren vorgestellt werden, an den Schluß nahm und das Geschehen in diesem Kontext noch einmal ausführlich resümiert. Der Erfolg spricht für den Regisseur. Er wollte das Stück nicht vom Blatt abarbeiten, er wollte aktuelles Theater damit machen. Daher lässt er zwar in Chicago spielen, auch in der Vergangenheit, meint aber immer hier und heute. Ohne vordergründig lehrhaft zu sein. Ohne agitatorisch aufzurufen. Mit seinem Schlußtableau gibt er kein beruhigendes Ende, sondern provoziert Nachdenken. Illusionslos wiederholt er Uis böse-sarkastischen Satz: "Denn so ist eben der Mensch". Nämlich manipulierbar. Und nur durch Gewalt friedfertig.

 

Müller besetzte einen Schauspieler als Arturo Ui, der frühere Darstellungen gewiß nicht vergessen macht, aber eine von unverwechselbarer Originalität hinzufügt. Wenn Martin Wuttke zunächst auf allen vieren wie ein Straßenköter hechelt, scheint sich zwischen einem eisernen Bahn-Viadukt (Bühnenbild Hans Joachim Schlieker) ein überfremdetes Spektakel anzukündigen. Doch sobald dieser Ui, den Blick immer mal wieder starr auf die Vorsehung gerichtet, seine Gangster-Philosophie direkt ans Publikum adressiert, bekommt die Aufführung verblüffend zeitnahe Brisanz. Wuttke ist frappierend differenziert und bricht die Figur virtuos. Noch eben ein Nichts von der Straße, ein schlampiges, erbärmliches Würstchen, schon der energische, hinterhältig gefährliche Bandit. Mal gefühlig weich sinnierend, mal eiskalt rational kalkulierend. Von hinreißender Komik sein Unterricht beim Schauspieler Mahonney, dem der greise Bernhard Minetti die hohe und zugleich wunderbar skurrile Würde eines alten Mimen verleiht. Nach dieser Lektion hält Ui, noch unsicher das eingeübte Gebaren ausprobierend, in Hitlers Diktion fallend, seine demagogische Ansprache. Schaurig-grotesk. Kaum zu überbieten. Doch wie er sein Geschlecht sucht, nachdem er der politischen die männliche Verführung der Mrs. Dollfeet folgen lassen wollte, ist das von fast noch entlarvenderer Komik.

 

Das Ensemble spielt mit Selbstbewusstsein im großen Stil, präzis, locker, nicht auf Effekte aus, sondern auf Realismus. Hermann Beyer als wuchtiger Roma, Volker Spengler als Superclown Giri, Martin Seifert als Blumenhändler Givola mit "synthetisch geöltem Maul". Stefan Lisewski gibt einen mumienhaften Dogsborough, Dieter Knaup einen schlaffen Dullfeet. Veit Schubert fällt auf als windiger Geschäftsmann Clark, Uwe Steinbruch als verblödeter Leibwächter. Margarita Broich ist die bestochene Dockdaisy, Traute Hoess die verführbare Mrs. Dullfeet.

 

Noch bevor man das Theater betrat, hatte sich ein Redner in die Aufmerksamkeit gedrängt. Vom Balkon herab und mit Megaphon verstärkt säuselt er heuchlerisch emotionslos von notwendigen Kriegsopfern und vom Durchhalten. So eingestimmt erreicht der Zuschauer den Saal, in dem der von Brecht rot durchgestrichene schwarze Adler und weiße Eselsköpfe in den Logen hell beleuchtet sind. Das kommende Geschehen ist zunächst hinterm Eisernen Vorhang weggesperrt. Dann mischen sich grün maskierte Karfiol-Händler unters Publikum, nehmen in der ersten Reihe Platz. Aber sehr bald wird klar, der hier abgehandelte Fall verbrecherischer Gaunerei geht nicht nur Geschäftsleute an...

 

 

 

Neues Deutschland, 6. Juni 1995