„Die Umsiedlerin“ von Heiner Müller am Staatsschauspiel Dresden, Regie B.K. Tragelehn

 

 

 

Eine Volksfigur, die sich einprägt

 

Heiner Müllers „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande" wurde vom Staatsschauspiel Dresden vorgestellt. Im Zentrum steht die junge Frau Niet, eine werdende Mutter. Ihre scheu tastenden Schritte in emanzipierte Selbständigkeit sind eingefügt in detailgetreue, oft sarkastisch scharfe Genrebilder geschichtlichen Umbruchs auf dem Lande. Heute, sechsundzwanzig Jahre nach der Uraufführung von 1961, erweist sich das Stück bereits als klassische sozialistische Tragikomödie — epochenoffener, naturwüchsiger und zuversichtlicher als bürgerlicher deutscher Dramatik gemeinhin möglich war. Dank auch dem hervorragenden Spiel des Dresdner Ensembles.

Gastausstatterin Gabriele Koerbl baute den aphoristischen Szenen ein spartanisch einfaches, stilsicher schönes Bühnenbild. Gastregisseur B. K. Tragelehn nutzte es zu einprägsamen, Spannungsfelder schaffenden Arrangements. Alle Figuren sind liebevoll in ihrem menschlichen Wesen gefaßt und prägnant umrissen, gelegentlich wohl satirisch überzeichnet, doch durchweg die dialektische, produktive Komik des Stückes bedienend.

Das Ereignis des Abends ist der Parteisekretär Flint von Peter Hölzel. Da rackert einer unermüdlich, väterlich, mit schlagfertigem Mütterwitz. Hinreißend, mit welch urwüchsigem proletarischen Selbstbewußtsein dieser Flint die Menschen anspricht und die Probleme packt. Eine Volksfigur im besten Sinne, derzeit einmalig auf unseren Bühnen. Helga Werner gibt eine unscheinbare, durchaus ungebrochene Frau Niet. Plastisch klar auch Rudolf Donath (Bürgermeister), Horst Krause (Großbauer Rammler). In weiteren Rollen: Joachim Zschocke, Hanns-Jörn Weber, Katja Kühl, Hannelore Koch.

 

 

 

Neues Deutschland, 3. Februar 1987