Uraufführungen nur auf dem Papier?

                                Vor der Theatersaison 1957/58

 

Die kommende Spielzeit wird im Zeichen der Uraufführungen stehen! Allerdings nur dann, wenn die Theater Stücke finden, die uraufführungsreif sind. Zahlreiche Bühnen nämlich haben zwar ihre Absicht verkündet, aber sie sind vorerst nicht in der Lage, einen Titel zu nennen. Gewiß, sie zeigen ihren guten Willen. Doch das allein genügt bekanntlich nicht. Unsere voreilige Freude wird also schnell wieder in ihre relativen Schranken verwiesen.

Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Uns geht es nicht um neue Stücke um jeden Preis. Das wäre ungesund. Aber uns liegt die Gegenwartsdramatik am Herzen. Wir meinen, daß das Repertoire unserer Bühnen um wesentliche Werke des sozialistischen Realismus bereichert werden muß, vor allem um Tragödien, Schauspiele, Lustspiele, Komödien und Schwanke, welche Konflikte jener Menschen zum Inhalt haben, die in der Deutschen Demokratischen Republik unter nicht immer leichten Bedingungen den Sozialismus aufbauen.

Um die Dramatiker kümmern

Mit der Ankündigung der Theater aber wurde erneut ein Mißstand offenbar, der nun schon jahrelang die notwendige Weiterentwicklung unserer Dramatik hemmt. Intendanten, Dramaturgen und Regisseure werfen sich mit nimmermüder Akkuratesse den Ball zu, der da Verantwortung heißt, und beteuern dem Außenstehenden, daß mit unserer Gegenwartsdramatik wenig, mit den vorhandenen Autoren noch weniger anzufangen sei. Gut, hier und da hat das Ballspielen zu Erfolgen geführt. Es sei nur daran erinnert, wie fleißig nunmehr allerorten Pfeiffers „Laternenfest" aufgeführt werden wird. Es ist sogar anzunehmen, daß sich weitere Bühnen anschließen werden, damit sie — wie böse Zungen behaupten — die lästig-notwendige Uraufführung hinter sich haben und im übrigen mit auf dem Ruhmesblatt dieser ersten Ring-Uraufführung stehen. Man kann allerdings auch der Ansicht sein, daß durch die Masseninszenierung eines Stückes der allgemeine Mißstand verdeckt wird.

Denn was geschieht außerdem? Wenn sieben Bühnen noch nicht wissen, was sie uraufführen wollen, zwei Theater Neufassungen als Uraufführungen ausgeben, nur drei einen Titel nennen und andere gar nicht die Absicht haben, dann kann man das beim besten Willen nicht als gesund bezeichnen. Zugegeben, manches Stück wird erst im Laufe einer Spielzeit angeboten. Aber man sollte nicht warten, bis einem etwas Rechtes auf den Tisch flattert. So fördert man nicht die Gegenwartsdramatik.

Ist das überhaupt nur ein Problem der Planung? Wir meinen, es wird nicht zielstrebig genug gearbeitet. Die Dramaturgen kümmern sich zu wenig um ihre Dramatiker. Überraschenderweise teilten auf unsere Umfrage („Arbeiten Sie mit einem jungen Dramatiker zusammen?") etwa 60 Prozent der Dramaturgen mit, daß sie mit einem Autor Kontakt aufgenommen hätten. Nun könnte es ja sein, daß sich eine solche Verbindung erst auswirken muß. Aber spielen wir erst seit einem Jahr Theater? Viel eher ist zu vermuten — und das bestätigen indirekt die vielfach unkonkreten Formulierungen der Antworten —, daß der Kontakt sehr lose ist und von einer intensiven Zusammenarbeit gar nicht die Rede sein kann.

Ein Dramaturg bekennt: „Augenblicklich nein. Auch versprechen wir uns nicht viel davon. Die Autoren mögen ihre Stücke selber schreiben. Technische Hilfe, ja, dichten sollen sie selber." Hat jemand verlangt, daß die Dramaturgen Dichter werden sollen? Uns würde schon genügen, wenn es die Dramatiker wären. Doch daß es zum Beruf des Dramaturgen gehört, Talente aufzuspüren und mit ihnen zu arbeiten, wird durch die Theatergeschichte überzeugend und genügend bewiesen. Wenn es in Potsdam am Hans-Otto-Theater passiert, daß „ein alter ‚junger' Autor leider die Geduld verliert", dann ist das zumindest ein Zeichen dafür, daß hier gearbeitet wurde.

Auf Kosten der Theaterkasse?

Gewiß könnten derart konsequente Bemühungen um neue Theaterstücke gefährlich in die Nähe dessen geraten, was sich „Erstellung von Dramatik" nennen ließe. Ähnliches Bestreben — allerdings unter anderem Vorzeichen, nämlich unter der pseudoästhetischen Devise Konfliktlosigkeit — brachte uns einmal Stücke ein, die die Besucher langweilten und aus dem Theater graulten. Darauf schauen wir heute mit Schmunzeln zurück. Und wir sind auch gar nicht geneigt, diese Kinderkrankheiten noch einmal durchzumachen.

Der Ruf nach Gegenwartsdramatik wird Talentierte und Untalentierte an die Schreibtische locken. Und die Dramaturgen werden wahrscheinlich schon in kurzer Zeit mit dem Postboten sehr vertraut sein. Ausgezeichnet, wenn dadurch Echtes und Reifes entdeckt wird und endlich entsprechend gepflegt werden kann. Aber wo ist die Grenze zwischen Kunst und Geschäft, zwischen Kunst und gutem Willen? Die geschäftstüchtigen Autoren werden Zwei-Personen-Stücke einreichen, die mit gutem Willen bestenfalls eine brauchbare Idee.

Feststeht: Jedem Talent muß geholfen werden, am besten mit einer Aufführung. Denn nur auf der Bühne wird sich der junge Autor selbst erkennen, wird er seine Schwächen sehen, wird er lernen. Und alles auf Kosten der Theaterkasse? Auch diese Frage beantworteten die Dramaturgen positiv. 50 Prozent meinten, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt seien, sollten auch künstlerisch schwächere Stücke aufgeführt werden, zwölf Prozent verneinten das, und der Rest enthielt sich der Stimme.

Maßstäbe nicht verwirren

Nun kann man sich streiten, was unter einem „künstlerisch schwächeren Stück" zu verstehen sei. Auf keinen Fall eines, das ideologisch „richtig" ist, aber schwach in der dramaturgischen Gestaltung. Eine solch fehlerhafte Trennung von „Ideologie" und „Kunst" verwirrt leider immer wieder unsere Maßstäbe und läßt schwache Werke zu unverdienten Ehren kommen. Von dramatischer „Kunst" kann man nur sprechen, wenn eine fortschrittliche Idee in ihr gemäßer dramaturgischer Form gestaltet wird. Erst dann handelt es sich um eine „künstlerische Aussage"; andernfalls vielleicht um eine gute Erkenntnis, die besser als Artikel oder als wissenschaftliche Abhandlung allgemein bekannt gemacht wird. Sich dieser Konsequenz zu beugen, ist nicht immer leicht und wird noch manche harte Diskussion auslösen. Wenn wir vorankommen wollen, dürfen wir dieses ästhetische Grundgesetz jedoch nicht außer Acht lassen.

Ein künstlerisch schwächeres Stück kann demzufolge nur ein solches sein, bei dem entweder die ideologische Absicht, deren dramaturgische Gestaltung oder auch beides zu Beanstandungen Anlaß geben. Soll jedoch ein derartiges Stück unaufgeführt bleiben, wenn sich herausstellt, daß es die Kraft des Autors übersteigt, weiter daran zu arbeiten? Die meisten Dramaturgen wiesen darauf hin, daß diese Frage nur im konkreten Fall entschieden werden kann. Sie haben recht. Aber es gibt einige Gedanken, die dabei beachtet werden sollten. Es handelt sich um die „gewissen Voraussetzungen". So schreibt die Annaberger Dramaturgin Ursel Boock: „Wenn die künstlerischen Schwächen aus der mangelnden Erfahrung des Autors resultieren, das Werk aber ein interessantes Thema eigenwillig behandelt und einen Blick für das dramatisch Wirksame spüren läßt, dann muß man dem Autor (eventuell nach Überarbeitung) Gelegenheit geben, sein Stück aufgeführt zu sehen. Woher soll er sonst seine Erfahrungen bekommen?" Und Dramaturg Helmut Bläss vom Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz schrieb: „Ich vertrete schon lange und hartnäckig den Standpunkt, daß auch künstlerisch schwächere neue Stücke uraufgeführt werden sollten, denn wie anders können neue Werke entstehen und junge Autoren lernen? Die Theater müssen nur eine Möglichkeit finden, diese Stücke in Aufführungen herauszubringen, hinter denen die ganze künstlerische Kraft steht, die aber, falls sie nicht Erfolg haben, auch nicht dem gesamten Anrechtspublikum gezeigt werden müssen."

Im Studio experimentieren

Bläss streift mit seiner Antwort bereits ein anderes Kapitel unserer Theaterarbeit, nämlich die Regiepraxis. Daß Stücke junger Autoren oft von ebenso jungen Regisseuren und Darstellern aus der Taufe gehoben werden, ist leider nicht neu. Selbst in Berlin hält man das ab und zu für sehr nützlich. Wobei allerdings gerechterweise betont werden muß, daß die jungen Künstler oft mehr Elan und Willen zur Veränderung erkennen lassen als die alten Theaterhasen.

Mir scheint es überhaupt nützlich, die Ensembles stärker als bisher in die Diskussion um neue Dramatik einzubeziehen. Vielfach geschieht das schon, und leider sind Erfolge und Ergebnisse der Öffentlichkeit zu wenig bekannt. Für ein Stück, das man als nicht reif genug für den Abendspielplan ansieht, sollten einige Mitglieder des Ensembles interessiert werden, damit sie eine Studioaufführung versuchen. Sie können sich Zeit nehmen, diskutieren, ändern und neu probieren. Das schadet niemandem, alle gewinnen; verloren geht unter Umständen private Freizeit. Und wenn sich das Stück abends doch durchsetzt, ist das nach echtem Kampf geschehen, und das Ensemble steht hinter seinem Stück. Das ist eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg.

Das » künstlerische Gewissen «

Niemand denkt daran, die Dramaturgen dafür verantwortlich zu machen, daß wir noch immer wenig Dramatiker haben, die gültige, reife Werke anbieten. Aber man muß sie dafür verantwortlich machen, daß sie offensichtlich zu wenig tun, um diesem Mangel abzuhelfen. Es ist gut, von Zeit zu Zeit die eigene Praxis zu überprüfen. Im gesamten Staatsapparat werden gegenwärtig große Anstrengungen unternommen, um die Arbeitsweise zu vereinfachen und produktiver zu gestalten. Sollten nicht auch die Dramaturgen eine ernsthafte Neuorientierung ihrer Tätigkeit vornehmen? Was ist die wesentlichste Aufgabe eines Dramaturgen? Die Produktion von Programmheften? Die Werbung neuer Theateranrechtler? Die Organisierung des Zubringerdienstes? Die Übernahme von Chargenrollen? Eine Regie je Spielzeit? Die Teilnahme an Sitzungen in Stadt und Land? Viele dieser Dinge waren vor Jahr und Tag eminent wichtig und sind es im konkreten Fall ohne Zweifel noch heute. Aber jetzt heißt die Devise: Der Dramaturg muß zum „künstlerischen Gewissen" seines Theaters werden. Dieses künstlerische Gewissen muß sich für die sozialistische Zukunft regen. Und solange nicht durch die Praxis erwiesen ist, daß das Gespann Dramaturg-Dramatiker unfähig ist, unserer Gegenwartsdramatik voranzuhelfen, solange sollte die demokratische Öffentlichkeit nicht ruhen, den Dramaturgen ein wenig auf die Nerven zu fallen.

 

SONNTAG, 11. August 1957