„Der Vater“ von August Strindberg am Maxim
Gorki Theater Berlin, Regie Martin Meltke
Fressen oder gefressen werden
Theater um einen Vater. August Strindberg (1849-1912) hat sich's vor über hundert Jahren einfallen lassen. Hypochondrische Psychodramatik eigener Befindlichkeit aus dem Zusammenleben mit einer Frau. Dreh- und Angelpunkt à la Malaise: Ist der Herr Rittmeister nun der Vater von Tochter Bertha oder hat ihn Ehefrau Laura betrogen?
Das Trauerspiel „Der Vater" der
Vergessenheit zu entreißen und auf die Bühne des Berliner Maxim Gorki Theaters
zu bringen, ist nur damit zu rechtfertigen, daß es schließlich und endlich um
mehr geht als nur um eine Vaterschaft. Der Ausbruch von Haß und Mißtrauen in
einer bürgerlichen Ehe ist Ausdruck und Spiegelbild ihrer Auflösung.
„Früher", resümiert der Rittmeister, „heiratete man eine Frau, jetzt
bildet man mit einem Geschäftspartner eine Gesellschaft oder zieht mit einer
Freundin zusammen! - Und dann schläft man mit dem Kompagnon und schändet die
Freundin! Wo ist die Liebe, die gesunde, sinnliche Liebe geblieben? Die ist
daran gestorben!" Wie aktuell doch! Ist's nicht just der soziale und psychologische
Prozeß, der sich derzeit in den neuen Bundesländern abspielt? Die Ossi-Frauen
seien liebesfähiger als die Wessi-Frauen, weil noch nicht so programmiert aufs
Geld. Heißt es. In Umfragen, in Talkshows. Nun gut.
Strindberg hat sein freidenkerisches
Bekenntnis zu sinnlicher Liebe versteckt. Nämlich hinter dem angeblichen Sparren,
den sich sein Rittmeister im Umgang mit Frauen einhandelte. Schon die Mutter
hat ihn zum halben Krüppel, die Schwester untertänig, seine erste Geliebte gar
auf zehn Jahr krank gemacht. Und Laura verbreitet zielstrebig das Gerücht, ihr
Mann sei verrückt. Was sich denn auch herstellt.
Das ist die Crux dieses Trauerspiels. Wird
der Rittmeister subtil als allmählich zum Wahnsinn eskalierend gespielt, hebt
Strindbergs Konflikt von der Erde ab und wird himmlisch-bizarres Theater der
Haß- und Angstzustände. Bleibt die Regie aber bei der Realität, möcht' man
fragen, warum dieser gesunde, vernünftige Rittmeister die Eheschlacht mit
seiner verlogenen Frau nicht übersteht, sondern am Ende - eingeschnürt in eine Zwangsjacke
- einem Schlaganfall erliegt.
Regisseur Martin Meltke pfiff auf
literaturwissenschaftliche Tiefenschürfungen und nahm den Ehe-Monomanen Strindberg
sauber-naturalistisch. In einem vor den Guckkasten montierten, Eingeschlossenheit
assoziierenden, spartanisch eingerichteten Wohnzimmer (Bühnenbild Matthias Kupfernagel)
führt er das ausgezeichnete Ensemble einfach und ohne spintisierende Attitüden.
Er bricht das Stück unvoreingenommen auf und entdeckt, was an menschlichen Beziehungen
real lebendig ist.
Den Vater gibt Hansjürgen Hürrig. Der
ist ein rustikaler Rittmeister. Seiner Tochter wie der Amme kneift er gern mal deftig
in die Wange. Ein Mann offenkundig, der sinnliche Liebe beim anderen
Geschlecht gesucht, aber nie gefunden hatte. Seine markigen Ausbrüche sind
rational gesteuert, sind bewußte Abwehr der hinterhältigen Angriffe der Frau, aber
nie Ausdruck eines verrückten Hirns. Wenn er sich, erschöpft, von der Amme in die
Zwangsjacke stecken läßt, ist's wie Rück- und Heimkehr in den mütterlichen
Schoß, wo Liebe und Geborgenheit herrschen.
Manja Behrens gibt mit deren
Auftritten zugleich eine Biographie der Amme: Da ist ein Mensch, lebenslang zu Diensten
für den Rittmeister. Stets hat sie ihn bemuttert. Nun verlangen die Leute, Ehefrau
Laura, der Doktor, ihn in eine Zwangsjacke zu stecken. Sie tut es, schweren
Herzens zwar, aber sie tut es und flüchtet zu ihrem Gesangbuch. Kalt, gefühllos,
egoistisch die Laura von Ruth Reinecke. Wieviel weibliche Bosheit hinter charmantem
Lächeln. Wie ein Automat fast betreibt sie die Entmündigung ihres Mannes. Stefanie
Stappenbeck gibt eine scheue Tochter Bertha, Eckhart Strehle einen zunächst sich
anbiedernden, dann sachlich korrekten Dr. Östermark, Wolfgang Hosfeld einen
griesgrämig gewissenlosen Pastor und Thomas Kirchner einen treuherzig-naiven
Kavalleristen Nöjd.
„Fressen oder gefressen werden! Das
ist die Frage!" Des Rittmeisters Aufschrei bleibt lange im Ohr. Viel
Beifall.
Neues Deutschland, 13. Juni 1994