80 Jahre Berliner Volksbühne
Für wen was spielen?
Vor noch gar nicht allzu langer Zeit hielten
anreisende Westdeutsche die Volksbühne in Berlin und den sie umgebenden
Rosa-Luxemburg-Platz für das finstere Ende der Welt. Für sie begann das Leben
erst wieder, wenn sie den Alexanderplatz hinter sich gelassen und den Kurfürstendamm
erreicht hatten. Für solche exotische Zeitgenossen, doch durchaus auch für heimische
Besucher, leuchtet neuerdings des Abends in weißen Lettern „OST" von der
Höhe des Hauses. Dies als ein trotziges Signal nicht allein für Ortsbestimmung,
sondern auch für Selbstbehauptung, und zwar nicht etwa von Illusionen, sondern
von überkommenen, aufgeklärten Auffassungen über Mensch und Gesellschaft.
80 Jahre Volksbühne. Bühne für welches Volk? Als das Haus am 30. Dezember 1914 im Zeichen des Ausbruchs des 1. Weltkrieges eröffnet wurde und nationalistische Euphorie proletarischen Bildungsdrang überflügelte, schien es tatsächlich, als eröffne man das Theater eines einmütigen Volkes.
Die Volksbühnen-Bewegung hatte einen bis
dahin ungeahnten Aufschwung erlebt. Die in die „Freie Volksbühne" und die
„Neue Freie Volksbühne" gespaltene Bewegung hatte sich 1913 zu einem
Theaterbesucher-Großunternehmen zusammengeschlossen, das nicht „linke" für
viele, sondern „reine" Kunst für alle Mitglieder zu bieten beabsichtigte
und das dafür ein eigenes Haus zur Verfügung haben wollte. Die Groschen der
Arbeiter und eine Hypothek der Stadt Berlin ergaben den Baufonds. In einer noch
heute atemberaubend kurzen Zeit von reichlich einem Jahr wurde das für damalige
Verhältnisse technisch modernste Theater erbaut. Julius Bab schwärmte in seiner
Eröffnungsrede. Er hatte sich, wie ihm die Presse bescheinigte, „durchaus auf
großdeutschen, aller Partei-Einseitigkeit fernen Boden" gestellt. Die aktuelle
Losung „Die Kunst dem Volke", die das Theaterportal zierte, meinte denn
auch das großdeutsche Volk in allen seinen Klassen und Schichten.
Ein Defekt der Bühnentechnik hatte dazu gezwungen, zur Eröffnung statt
Goethes „Götz von Berlichingen" Bjornsons Lustspiel „Wenn der junge Wein
blüht" zu bringen. Damit war unvermutet eine Frage aufgeworfen, die über
Jahrzehnte, modifiziert zwar, immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen
werden sollte. Für wen wird was gespielt?
Als ab 1915 Max Reinhardt mit seinem Ensemble die Volksbühne bespielte
und bis dahin unbekanntes Volksbildungs-Theater machte, erzeugte er mit seinen
großen Klassiker-Inszenierungen zugleich eine „Suggestion" von Einmütigkeit,
wie sie im Verlaufe des Krieges immer weniger opportun war. Noch im Januar 1918
entfachte er mit Kleists „Hermannsschlacht" beim Publikum einen im Grunde
höchst fatalen Sturm der Begeisterung.
So kristallisierte sich an der Volksbühne, früher als an anderen
Theatern, das Problem heraus, daß Schauspielkunst, selbst wenn sie die Wirklichkeit
getreulich spiegelt, partout von ihr ab- und zu reinen Gefilden der Kunst
hinlenken kann. Erwin Piscator war es, der nach dem Kriege eben solche
ästhetische Verklärung der Realität nicht mehr aufkommen ließ. Seine
Inszenierungen an der Volksbühne - u. a. „Wer weint um Juckenack?" von
Hans José Rehfisch und „Nachtasyl" von Gorki -, oft mit Film und
Projektionen um mediale Dimensionen erweitert, schilderten die Wirklichkeit nicht
aufschönend, sondern enthüllend.
Unter Piscator (1924-1927) etablierte sich in der Volksbühne die
plebejische Linie des Welttheaters, die vom antiken Mimus über die Commedia dell'arte
und Shakespeare bis zum proletarischen Agitprop-Theater und Brecht reicht. Auch
spätere Aufführungen wie „Hoppla wir leben" von Toller (1927), „Mann ist
Mann" von Brecht (1928) und „Die Matrosen von Cattaro" von Wolf
(l930) stehen dafür.
Die demokratische Auseinandersetzung um das geistige Profil der
Volksbühne wurde schon bald behindert, dann überhaupt verhindert. Schon 1933
wurde die Volksbühnen-Bewegung gleichgeschaltet, 1939 die Volksbühne e.V. vom Amtsgericht
Berlin aus dem Vereinsregister gestrichen, das Vermögen des Vereins dem Deutschen
Reich zugesprochen, das Krieg führte. Die verheerenden Folgen sind bekannt. In
der Nacht des 22. November 1943 wurde die Volksbühne von Bomben so schwer getroffen,
daß sie geschlossen werden mußte.
Abermals mit Arbeiter-Groschen finanziert, mit Geld der armen, von Ost
und West angezapften DDR, wurde die Volksbühne wieder aufgebaut und am 21.
April 1954 festlich neu eröffnet. Unter Intendant Fritz Wisten nahm das Haus
bald einen führenden Platz in der erneuerten deutschen Theaterlandschaft ein.
Die Frage, was für wen zu spielen sei, war unter den spezifischen Bedingungen
der DDR-Gesellschaft, schien es, nunmehr einfach zu beantworten, zumindest
theoretisch. In der Praxis allerdings blieb sie schwer beantwortbar. Wistens
Vorstoß 1959 beispielsweise mit Majakowskis „Schwitzbad", für dessen
Inszenierung er sich einen Regisseur aus Moskau geholt hatte, endete damit, daß
die Aufführung die Premiere erlebte und dann untersagt wurde.
Dennoch gedieh das Haus am
Rosa-Luxemburg-Platz zu einem Volkstheater. Nicht nur wegen der sozialen Zusammensetzung
des Publikums, sondern auch wegen des volkstümlichen Spielplans und der zuschauernahen
Spielweisen. Unter der Direktion Benno Bessons (1974-1978), eines Brecht-Schülers
und Regisseurs komödiantischer Perfektion, war die Bühne ein äußerst zeitkritischer
und zugleich unterhaltsamer Partner der Gesellschaft. Der Bogen spannt sich von
den „Spektakel"-Aufführungen (1973/74, Regie Karge/Langhoff), über „Die Bauern"
von Heiner Müller (1976, Regie Marquardt), bis zu „Hamlet" von Shakespeare
(1977, Regie Besson).
Unter der Direktion Fritz Rödels (1978-1989)
zeugten Aufführungen wie Heiner Müllers „Bau" (1980, Regie Marquardt),
Aristophanes' „Die Vögel" (1986, Regie Straßburger/Hering), Bulgakows „Der
Meister und Margarita" (1987, Regie Höchst), Becketts „Warten auf
Godot" (1988, Regie Höchst), Bulgakows „Hundeherz" (1989, Regie
Hawemann) und schließlich Plenzdorfs „Zeit der Wölfe" (1989, Regie Höchst)
von den wachsenden Schwierigkeiten, produktiv Volks- und zugleich Zeittheater
zu machen. Das vollbesetzte Haus 1990 zur Lesung von Schatrows Stück „Weiter..."
über die Tragödie der bolschewistischen Bewegung sah das Publikum in einer erregten
emotionalen Einmütigkeit, wie sie sich vorher nicht mehr und nachher so schnell
nicht wieder erzielen ließ.
Seit der von der DDR-Bevölkerung demokratisch
erzwungenen Wende, die von den Politikern der Alt-BRD genutzt wurde, die
Einheit Deutschlands als Annexion eines von der UNO anerkannten Landes zu
praktizieren, wird das Ostvolk einer gigantischen ideologischen Gehirnwäsche
unterzogen. Man versucht, alles aus den Köpfen herauszumanipulieren, was
irgendwie mit der antikapitalistischen Gesellschaft zu tun hatte. Doch das deutsche
Volk ist zerrissener denn je. Nicht nur in West- und Ostvolk. Vor allem in
Reiche und Arme. Und die Volksbühne? Wo ist ihr Platz?
Immerhin: Sie hat noch
einen. Der Senat, so rigoros er in Berlin Theater schloß, die Volksbühne am
Luxemburg-Platz hat er nicht anzutasten gewagt. Und mit Frank Castorf läßt er
dort einen Mann Theater machen, der alles andere als konformistisch ist. Früher
nicht, heute nicht. Unter Castorfs Direktion ist die plebejische Linie des
Welttheaters wieder aufgenommen und bereichert worden. Ob bei Kreationen vom
Chef des Hauses („Pension Schöller/Die Schlacht"), ob bei Andreas Kriegenburg
(„Aufstand der Angestellten"), Johann Kresnik („Rosa Luxemburg") oder
Christoph Marthaler („Murx den Europäer..."), stets ist da ein direkter,
aktueller Zugriff auf Wirklichkeit. Und die oft überraschende, meist
schockierende ästhetische Formung versagt sich jede Verklärung. Die gleißnerische
Oberfläche der Gesellschaft wird aufgebrochen, und unterschwellige, ursächliche
Prozesse werden schaubar gemacht, illusionslos, und eben damit vor allem jungen
Zuschauern Impulse vermittelnd. Nicht zuletzt gegen den Neofaschismus.
Mißliebig beäugen konservative Politiker das Treiben am Luxemburg-Platz, Theaterkritiker
aber verliehen ihm den Titel „Theater des Jahres 1993".
So ist denn die Volksbühne derzeit geistige
Heimat nicht nur für viele junge Ostdeutsche, sondern für manch einen Bürger im
Lande, der sich den dominierenden, das Volk verdummenden Medien nicht
ausliefern möchte, der unorthodoxe Fragen und Antworten bewußt sucht, weil er
seinem Leben einen eigenen Sinn geben will.
Neues
Deutschland, 30. Dezember 1994