„Volksfeind“ von Henrik Ibsen am Maxim Gorki Theater Berlin, Regie Siegfried Bühr

 

 

 

Ein Kesseltreiben von der allerfeinsten bürgerlichen Art

 

Vor just 110 Jahren, am 13. Januar 1883, wurde im Osloer Christiane-Theater Henrik Ibsens Schauspiel „Ein Volksfeind" uraufgeführt. Jetzt hat Dramaturg Klaus Pierwoß das Stück für das Berliner Maxim Gorki Theater ausgegraben. Und Regisseur Siegfried Bühr inszenierte es fürsorglich. Er spielt den ganzen streitbaren, aber trockenen naturalistischen Idealismus, mit dem Ibsen damals die bürgerliche Gesellschaft geißelte.

Hat der Dichter irgendetwas bewirkt? Nein. Natürlich nicht. Der jüngste Fall: Vor wenigen Tagen sind im Frankfurter Werk der Hoechst AG rund 2,5 Tonnen der krebsauslösenden Chemikalie O-Nitro-Anisol ausgetreten. Die Feuerwehrleute ließ man gegen ein „harmloses Mittel" antreten. Was können Umweltschützer dagegen tun? Sie sind ohnmächtig wie Ibsens Held.

Dr. Stockmann, Arzt und Wissenschaftler, hat seiner Vaterstadt ein einträgliches Geschäft mit einem Heilbad verschafft, das auf seine Anregung hin gebaut wurde. Er hat aber den Verdacht, dass die einflussreichen Geschäftsleute der Stadt, wozu sein Bruder gehört, der Bürgermeister und Vorsitzende der Kurverwaltung, schwere Fehler gemacht haben. Die Herrschaften bauten nämlich anders, als es Um-Weltfreundlichkeit geboten hätte, so dass sie statt eines Heilbades einen Pestpfuhl in Betrieb genommen haben. Stockmann lässt Wasserproben an der Universität untersuchen, sieht sich bestätigt und geht wahrheitsfanatisch an die Öffentlichkeit.

Ibsen führt nun vor, wie die um ihre Gewinne fürchtenden Besitzbürger sich den lästigen Mahner vom Halse schaffen. Zunächst sorgt der Bürgermeister dafür, dass der „Volksbote", die „liberale" Zeitung des Ortes, sich von Stockmann distanziert. Und die Bürgerversammlung, die der Arzt ertrotzt, wird von den Herrschenden im Rahmen aller Spielregeln der Demokratie zum Tribunal gegen den Störenfried gemacht. Er wird von der manipulierten Masse zum „Volksfeind" erklärt.

Welch heilsame Lektion des Dichters über Wahrheit, Demokratie, Freiheit und Volkes Stimme. Dennoch fragt man sich, wozu Theater heutzutage noch Sinn macht. Soll sich der Zuschauer lediglich einmal mehr sagen lassen, dass er ohnmächtig ist?

Immerhin lohnt es am Gorki Theater nach wie vor, die Schauspieler zu sehen. Klaus Manchen, der profilierte Charakterdarsteller, gibt den Dr. Stockmann. Bei ihm ist dieser „Strudelkopf", wie ihn Ibsen nannte, ein umgänglicher Naturfan, der mit Pudelmütze und Schnürstiefeln auch bei widrigem Wetter seine Spaziergänge macht. Ganz selbstverständlich ist er ein echter Haustyrann, der sich vom Eheweib (Monika Hetterle) die Pantoffeln bringen lässt. Und schließlich ist er der leger, selbstbewußt und unverdrossen kämpfende Idealist, der der Wahrheit seine Familie opfert, sie ins soziale Abseits katapultiert. Denn er wird vom Bürgermeister (Hilmar Baumann) fristlos entlassen. Seine Tochter Petra (Gundula Köster), eine Lehrerin, wird gefeuert. Nicht genug damit. Gerbermeister Morton Kiil, Frau Stackmanns Pflegevater (Albert Hetterle), dessen Fabrik das Wasser besonders vergiftet, enterbt die Familie. Und der Hausbesitzer kündigt die Wohnung.

Ein Kesseltreiben also von der allerfeinsten bürgerlichen Art bereits vor über hundert Jahren. Der geneigte Leser weiß möglicherweise aus eigener Erfahrung, wie trefflich nobel und absolut gründlich die bürgerliche Mehrheit heutzutage gegen „Volksfeinde" vorgeht.

Die Inszenierung - das sei hintangefügt - hat ein wenig Mühe mit der Lebhaftigkeit. Sie kann und will die konventionelle Dramaturgie Ibsens nicht überspielen. Die Versammlung immerhin hat szenische Farbe. Wolfgang Hosfeld bringt sie ein als konzilianter Druckereibesitzer Aslaksen und Vorsitzender der Gesellschaft für Mäßigkeit, Thomas Rühmann als windig-wendiger Redakteur, Ulrich Anschütz als hundsföttischer Zeitungsmitarbeiter. Reinhard Michalke als Betrunkener und Manfred Borges als routinierter Versammlungsteilnehmer setzen Lichter. Die Grundfarben aber liefern die Hauptkontrahenten, die Gebrüder Stockmann. Und Regisseur Siegfried Bühr, zugleich sein eigener Bühnenbildner, sorgt im dunkel gehaltenen Raum für stets ausgewogenes Kolorit.

Regie und Darsteller - das sei hervorgehoben, diffamieren Dr. Stockmann nicht als eigenbrötlerischen Narren, als den ihn der Autor am Ende porträtiert, wenn er ihn zur Familie sagen läßt: „Am stärksten ist der Einsame, der allein steht." Regie und Darsteller sorgen allerdings für Distanz. Stockmann verkündet seine närrische Schluß-Erkenntnis nämlich in der Unterhose. Ist es wirklich so weit gekommen mit den Umweltschützern?

 

 

Neues Deutschland, 26. Februar 1993