„Onkel Wanja“ von Anton Tschechow am Deutschen Theater Berlin, Regie Thomas Langhoff

 

 

 

Menschen  -  zum Leben verurteilt

 

In einem Lande, in dem Fabriken für 1 Mark und Wälder und Immobilien für Millionen gehandelt werden, ist ein Theaterstück der Weltliteratur schon von einigem Interesse, in welchem ein Mensch, der sich jahrelang abgerackert hat, wie ein Verrückter um seine Bleibe kämpft. Die Rede ist von Onkel Wanja und Anton Tschechows (1860-1904) gleichnamiger, hundert Jahre alter Komödie in einer hinreißenden Inszenierung Thomas Langhoffs am Deutschen Theater in Berlin.

Der Regisseur bürgt dafür, daß kurzschlüssige Assoziationen nicht stattfinden, schon gar keine plumpen Aktualisierungen. Aber er garantiert eben auch, daß die alte Geschichte aus dem fernen Rußland nicht daherkommt wie ein museales Schaustück. Vielmehr erreicht Langhoff mit Wahrhaftigkeit im Detail eine verblüffend zeitnahe Unmittelbarkeit. Keine theatralisierte berühmte Tschechowsche Langeweile also, sondern frische, sehr direkte „Szenen aus dem Landleben". Menschen, zum Leben verurteilt, wenngleich ihr Handeln wie ihr Hoffen ins Leere geht.

Den gebeutelten armen Kerl, den „Onkel Wanja", gibt Christian Grashof. Er ist ein trutziger Iwan Woinizki, der sich aufbäumt gegen den Verwandten, der aus Moskau angereist ist und zu bestimmen versucht. Professor Serebrjakow, der Mann der verstorbenen Schwester Iwans, will den Landsitz verscherbeln, der eigentlich seiner Tochter Sonja gehört. Onkel Wanja aber hat gemeinsam mit Sonja das Gut jahrelang rechtschaffen verwaltet, hat schwer und redlich gearbeitet, um es erhalten und dem Professor Geld schicken zu können. Nun kann er nicht fassen, wie seelenlos dieser auf Zinsgewinn spekulierende Gelehrte über die Lebensinteressen seiner Verwandten hinweggeht.

Zum familiären Ärger Wanjas kommt Kummer in der Liebe. Da hat er sich in Jelena, die zweite Frau Serebrjakows, verguckt und kriegt nicht nur einen Korb, muß auch noch mit ansehen, wie die Vergötterte einen anderen küßt, nämlich Astrow, den Landarzt. Bis dahin hatte ihn noch eine Hoffnung auf Liebe leise beflügelt, hatte ihn überlegen lächeln lassen, wenn der befreundete Astrow, der „Waldschrat", seine ökologischen Grundsätze verkündete. Nun versteinern sich seine Züge. Als dann Serebrjakow seine Pläne offenlegt, dreht Onkel Wanja durch. Seiner Sinne nicht mehr so ganz mächtig, greift er zur Pistole und schießt auf den Mann seines Hasses. Er hält ihn ohnehin für einen dreisten Scharlatan. Er ballert daneben. Aber er vergrault den Störenfried.

Grashof hat ein einmaliges Vermögen, seine Figur zu ironisieren, sie über sich selbst untröstlich sein zu lassen. Dieser Wanja räsoniert so ergötzlich, daß man ihm gewogen wird und dazu neigt, ihm bei seinen Attacken gegen den Eindringling recht zu geben. Serebrjakow ist bei Dietrich Körner durchaus ein Mann, dem man gelehrte Streitbarkeit zutraut, wenn er nun auch, in die Jahre gekommen, eher einer etwas hohlen, aufgeblasenen Macht gleicht. Immerhin hat ihn die junge Jelena geheiratet. Und die ist in der Gestaltung Dagmar Manzels eine so reservierte, weibliches Kalkül ausstrahlende attraktive Frau, daß man nicht glauben mag, sie sei vor Jahren einem Scharlatan auf den Leim gegangen.

Es gehört zur Regiekunst Langhoffs, jeder Figur ausgewogen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. So wie Serebrjakow kein offenkundiger Schmarotzer, ist Astrow kein erbärmlicher Trunkenbold. Wenn Jörg Gudzuhns Arzt mit selbstverständlicher Nonchalance eine Flasche Wodka ins Jackett steckt, macht er das routiniert stets so, daß man ihm zutraut zu wissen, wann er aufhören muß zu saufen. Gudzuhn, in letzter Zeit gelegentlich etwas verfestigt in tragischem Gestus, ist diesmal erfreulich locker, geradezu jugendlich. Jedenfalls ist Jelena zu verstehen, die ihn mag, und noch viel mehr Sonja, die ihn unglücklich liebt.

Ulrike Krumbiegels Sonja überzeugt durch ihre stille, demutsvolle Zurückhaltung. Immer spürt man, da schlägt ein Herz für das Leben, doch die Umstände lassen es verkümmern. Als der Vater, der Fremde aus Moskau, abreist und die von den Alten - Marina (Elsa Grube-Deister), Maria Woinizkaja (Inge Keller) und Ilja Telegin (Reimar Joh. Bauer) - ersehnte Ruhe wieder einzieht in die lichthellen, zuweilen verdüsterten Gemächer des Gutshauses (Bühnenbild Pieter Hein), öffnet Sonja zuversichtlich ihr bislang streng gebändigtes volles Haar und tröstet den weinenden alten Onkel mit Lobpreisung des Jenseits. Sie schöpft ein wenig Hoffnung aus der Möglichkeit, sich wieder in die Arbeit stürzen zu können.

Immerhin, da hatte es noch Arbeit...

 

 

 

Neues Deutschland, 6. März 1995