„Die schöne Wilde“ von Goldoni vom Teatro di Roma, Regie Sandro Sequi

 

 

 

Amüsant-ironische Sicht auf ein selten gespieltes Goldoni-Stück

 

Aus dem Dunkel der Bühne wird allmählich das plastische Bild einer pompösen Adelsgesellschaft herausgeleuchtet. Schöne Frauen, stattliche Männer, beflissene Diener in einem venezianischen Palazzo, Töne zarter Glöckchen erwecken die starren Gestalten zu temperamentvollem Leben.

So beginnt die von Dramaturg Mario Roberte Cimnaghi erfundene Rahmenhandlung zu Carlo Goldonis Tragikomödie „Die schöne Wilde". Ein zwischen den Adligen ausbrechender Streit über ein vermeintliches europäisches Privileg gegenüber den Waiden in Amerika endet den Prolog und geht über in das eigentliche Goldoni-Spiel, vorgeführt im Deutschen Theater von der Truppe des Teatro di Roma aus Italien.

Das Ensemble gastiert zum erstenmal in der Deutschen Demokratischen Republik. Gekommen sind die Künstler zum Berlin-Jubiläum, und auf einer Pressekonferenz bekundete Regisseur Sandro Sequi, daß sie nicht nur sehr gern in der Metropole unseres Landes auftreten, sondern auch sehr neugierig waren auf das Publikum dieser Stadt.

Das Teatro di Roma ist ein Teatro Stabile, also mit festem Sitz, Ensemble und Repertoire, und spielt im altehrwürdigen Gebäude des Teatro Argentina. Es entstand 1971 unter der Beteiligung der Stadt und Provinz Rom sowie der Region Latium. Sein künstlerischer Leiter, Maurizio Scaparro, vermittelte herzliche Grüße von Hauptstadt zu Hauptstadt mit dem Bekenntnis: „... als Bote des Fortschritts, der Phantasie und des Friedens war es von jeher ein Anliegen des Theaters, beizutragen, einander näher zu kommen."

Zwar mußten sich die Berliner erst einmal „hineinsehen" in die von Goldoni geprägte bunte Theaterszene, auch war bei den Gästen anfangs ein wenig nervöse Spannung zu spüren, doch bald signalisierte Szenenapplaus, daß Stückwahl und Interpretation Zustimmung fanden und Künstler und Zuschauer sich über ein ebenso naives wie zugleich intelligentes und phantasievolles Theaterspiel näher kamen.

„Die schöne Wilde" ist ein bislang kaum beachtetes Werk Goldonis, das er 1757 für das Teatro di San Luca schrieb. Er nannte es „ein romantisches Stück" und war stolz darauf, „auch an den Ufern des Amazonas Komik entdeckt" zu haben. Dies nun ist in der Tat erstaunlich: Bereits in der Zeit eskalierender Kolonisierung Amerikas durch europäische Eroberer setzte Goldoni realistisch-kritische Akzente. Don Alonso, der portugiesische Kolonisator im Stück, zu den Eingeborenen: „Wir wollen nur den Reichtum abschöpfen, der in euren Bergwerken liegt und den ihr nicht zu schätzen wißt." Die angeblich abendländische Mission stellt Goldoni komisch in Frage. Er behandelte den von dem Aufklärer Abbe Prevost (1697-1763) übernommenen ernsthaften Stoff mit den theatralischen Mitteln seiner Zeit, schrieb zwar kein Stegreif-Szenarium mehr, sondern bereits in Versen, aber noch ganz und gar in der „Verwicklungs-Technik" der Commedia dell’arte.

Es kann hier daher auch nur gewissermaßen der „Hauptknoten" der mehrfach verstrickten Handlung benannt werden: Don Alonso, mit einer Streitmacht an der Küste von Guayana gelandet, verliebt sich in die Königstochter Delmira, die „schöne Wilde". Dies aber widerfährt auch Don Ximene, einem seiner Offiziere, der eigentlich der Donna Alba zugehört. Konflikt! Und außerdem: Die Kaziken, die Ureinwohner, wehren sich. Ihr Aufstand wird niedergeschlagen, König Camur gefangengenommen. Doch der Schluß ist versöhnlich romantisch-schön. Delmira geht mit nach Europa.

Bearbeiter Cimnaghi hat die vom Autor herrührende zweiaktige Intermezzo-Form geschickt genutzt, um eine weitere, eine neue Spielebene einzufügen, nämlich eine Parodie auf die Opera seria. Der volkstümliche Spott auf die seriöse Oper der Herrschenden war schon in Goldonis Tagen lebendig und belebt jetzt vorzüglich die Aufführung.

Drei junge Damen sitzen links an der Rampe und spielen artig auf Clavicembalo, Violine und Violoncello eine im Stilempfinden des 17. Jahrhunderts geschriebene anmutige Musik von Marcello Panni. Die Darsteller werden davon in pointierten Momenten zum Gesang angeregt. Duilio Del Prete gefällt als Don Ximene, der den Offizier gesanglich und spielerisch mit männlichem Charme kräftig zu ironisieren versteht. Und Franca Tamantini gibt eine maßvoll eifersüchtige, verschmitzt-kluge Donna Alba. Beide behaupten das Parodistische souverän in der einfachen, schnelle Verwandlungen zulassenden Kulissenbühne Giuseppe Crisolini Malatestas, der auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet. Nur bei den Ureinwohnern griff er daneben. Anstatt sie karg zu kleiden, steckte er sie in eine bieder-zivilisierte Tracht und bewirkte ungewollt und ganz am Rande eine fatale Parodie.

Die Liebesgeschichte zwischen Königstochter Delmira (Rosa Di Lucia) und Don Alonso (Gianni Garko) findet bei der Dienerschaft eine grotesk-komische Ergänzung. Der Kazik Schichirat schäkert mit Rosa (Aide Asta). Sie agieren in stilisiertem Harlekins-Kostüm mit den quirligen Bewegungen der Commedia dell'arte. Dabei spielt sich der Schichirat Stefano Onofris schnell in die Gunst des Publikums, und dies gewiß nicht nur wegen seiner vertrackten Liebe für europäischen Wein.

Nachdem im Verlaufe des Abends die allmähliche Verheiratung einer „wilden" Königstochter gelegentlich der „friedlichen" Eroberung einer amerikanischen Insel durch Portugiesen mit amüsant-ironischer, unverbrauchter Theatralik vorgeführt wurde, erstarrt die wohlarrangierte Adelsgesellschaft am Ende wieder in nostalgischer Harmonie. Man weiß nun, wie die exotische Schönheit einst in dieses opulente Bild geraten ist. Das Publikum reagierte mit herzlichem, lang anhaltendem Beifall.

 

Neues Deutschland, 13. Mai 1987