„Winterschlacht“ von Johannes R. Becher am Deutschen Theater Berlin,
Regie Alexander Lang
Humanistisches Bekenntnis von großer dichterischer Kraft
In den Tagen des Mai 1985 bringt das Deutsche Theater Johannes R.
Bechers deutsche Tragödie „Winterschlacht" in Berlin zur Aufführung. Alexander
Langs Inszenierung scheint mir in zweierlei Hinsicht bedeutsam.
Zum einen hat dieser Mann phantasiereichen Theaters gezielt den Lyriker,
auch den Epiker und weniger den Dramatiker Becher in dessen sprachlicher
Schönheit und Herbheit gefaßt und Wort und Szene faszinierend verdichtet. Zum
anderen hat er die Aktualität des Becherschen Bekenntnisses betont: Für Feinde
führt kein Weg nach Moskau!
Im Dienste dieser Botschaft setzt der Regisseur die reichen Mittel sozial-realistischer Bühnenkunst ein. Dazu gehört auch die Uraufführung des „Vorspiels zur Winterschlacht" von Heiner Müller, entstanden nach Alexander Beks Roman „Wolokolamsker Chaussee".
Ein sowjetischer Kommandeur berichtet über die Verteidigungsschlacht vor
Moskau. In dichten Bildern entsteht die „Winterschlacht" aus der Sicht der
um die Freiheit ihrer Heimat kämpfenden Sowjetsoldaten.
Lang besetzte die Rolle des Kommandeurs mit zwei Darstellern, bündelt
damit geschickt das Monumentale wie das Individuelle dieser Figur. Michael Gwisdek
und Dieter Montag schießen die Worte pointierend ins Publikum, des Kommandeurs Erschöpfung,
Mut, Menschenwürde und hohe Kampfmoral assoziierend. Meisterhaft. Ein aufrüttelnder
Prolog zu Bechers „Deutscher Tragödie".
Becher schrieb sein Drama Ende 1941, als die faschistischen Aggressoren
hundert Kilometer vor Moskau standen. In dieser Zeit bekannte sich der
kommunistische deutsche Dichter, Emigrant in der Sowjetunion, zu dem anderen,
dem besseren Deutschland und zu dessen besten Söhnen — aber auch zu jenen, die
erst angesichts der grausamen Verbrechen der „Herrenmenschen" aus
faschistischer Verblendung erwachten und sich den Mördern verweigerten.
Bechers Held ist der Gefreite Johannes Hörder, der „Unbekannte
Soldat" des zweiten Weltkrieges. Der intelligente Sohn eines
SS-Obergruppenführers, zwar mit dem Ritterkreuz behängt, träumt vom Frieden und
empfindet menschlich. Zaudernd erleidet er das Unsägliche, an der Front, im
Elternhaus. Schließlich wehrt er sich. Er bringt, von den Nazis auf die Probe
gestellt, gefangene Partisanen nicht um — und wird dafür ermordet.
„Die deutsche Hamletfigur'', schrieb Becher 1953, „die ich in der
,Winterschlacht' gestalten wollte, möge ihre Stimme erheben, und zugleich mit
ihr möge jene Gräber-Unendlichkeit berredt werden und sprechen davon, daß jeder
Versuch, die ‚Schlacht um Moskau' zu wiederholen, noch katastrophaler enden muß
als jene ‚Winterschlacht', wie wir sie mahnend in das Gedächtnis des deutschen
Volkes zurückrufen wollen, indem wir sie hier vorführen."
In den fünfziger Jahren half Bechers Drama denen, die den Krieg überlebt
hatten, sich im Leben neu zu orientieren, antifaschistische Einsichten zu gewinnen
und ein freundschaftliches Verhältnis zur Sowjetunion zu finden. Heute bestärkt
das Stück auch jene, die den Krieg nicht erlebten, den Frieden entschlossen und
fest an der Seite der Sowjetunion zu verteidigen. Denn noch gilt auch Brechts
Warnung vor den Kriegstreibern: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das
kroch.
Politisch agitatorisches Theater also, erhoben zu lyrisch-epischem, poetischem
Realismus. In Volker Pfüllers atmosphärischem Bühnenbild — weite
Schneelandschaft, verkohlte Birken, umrahmt am Portal mit Blumengebinden und
wehenden Fetzen dunkler Leinwand — läuft das Geschehen ab wie eine vorzeitliche
Zeremonie. Von szenischem Tableau zu szenischem Tableau beklemmender enthüllt
sich die faschistische Kriegsmaschinerie.
Was mich besonders beeindruckte: Alexander Lang setzt sich scharf mit
Hitlers Horden, dessen Offizieren, Fallschirmjägern, Panzersoldaten, Landsern
auseinander, treibt die Kritik an ihnen zuweilen zu vernichtender Karikatur,
doch differenziert er stets genau und zerstört nie die Substanz der Figuren.
Da sind die drei jungen Panzersoldaten (Frank Lienert, Ulrich Mühe und
Thomas Neumann). Ihr hohles, widerliches Hohngelächter, das auch Abwehrreaktion
ist, Flucht in den Galgenhumor, entlarvt die Rohheit faschistischer Soldateska.
Eiskalte Menschenverachtung bei Oberstleutnant von Quabbe (Volkmar Kleinert);
in Goebbels Manier hysterisch schreiend der zermürbte Major von Rundstedt
(Horst Hiemer); der im Dienste des Militarismus abgestumpfte General (Ernst
Kahler) und der senil-geschäftig lügende Rundfunkreporter (Peter Dommisch).
Alexander Lang schuf eine eigene
Stückfassung, mit der er die geistigen Wendepunkte Hörders in den Vordergrund
stellt, auch dessen zerbrechende Freundschaft mit Gerhard Nohl (Klaus Piontek),
der mit zwei anderen Kameraden zur Roten Armee überläuft. Ein Höhepunkt der Aufführung ist die oratorisch vorgetragene Lebensbilanz
der Freunde, auch die versteckte Agitation des Narren, des Stabskochs
Oberkofler (Rolf Ludwig mit Bravour) gegen den Kriegswahnsinn.
Stark gekürzt sind die Begebnisse um Anna
Nohl (Jutta Wachowiak). Mit sezierender Schärfe bringt Lang dennoch den Konflikt
im Elternhaus ins Spiel, das ungleiche, zerstrittene, sich mißtrauisch
belauernde Ehepaar Hörder. Der SS-Obergruppenführer (Otto Mellies), ein infamer
Beisitzer des „Volksgerichtshofes"; seine Frau Maria (Lissy Tempelhof),
eine Mutter, die ihrem Sohn Kraft gilbt zum Widerstand.
Den Johannes Hörder spielt Dieter Mann als
einen zu Kadavergehorsam erzogenen jungen Menschen, bescheiden, verhalten, fast
zu zart. Dessen Glaube an sein Vaterland ist tief, um so grenzenloser sein
Entsetzen, als er zu begreifen beginnt, was in Deutschlands Namen verbrochen wird.
Ein junger Deutscher auf dem Wege zum Antifaschisten.
Es ist von Symbolkraft, daß der Kommandeur
der siegenden Roten Armee über die Bühne — wie aus den Weiten des Sowjetlandes kommend
— nach vorn an Hörders Grab schreitet, wenn er von der Schlacht für aller
Völker Freiheit spricht. In diesem Moment wird dem Zuschauer Hörders tragisches
Geschick nachdrücklich bewußt. Eberhard Esche spricht den Epilog schlicht,
unaufdringlich, aber eindringlich, unüberhörbar.
Ein engagiertes Ensemble, ein großer Abend,
ein würdiger Beitrag des Theaters im 40. Jahr der Befreiung des deutschen
Volkes vom Hitlerfaschismus.
Neues
Deutschland, 17. Mai 1985