„Zeit der Wölfe“ von Ulrich Plenzdorf in
Berlin und Potsdam, Uraufführung, Regie Siegfried Höchst und Gert Jurgons
Szenische Substanz vielschichtiger Prosa
Wenn der kirgisische Viehzüchter Basarbei,
den Dieter Mann als einen lauernd-gefährlichen Fiesling spielt, seine Frau Tursun
(Susanne Düllmann) böse beschimpft und mit ihr abgeht, weiß der Zuschauer, daß
er sie gleich wieder prügeln wird. Dann ertönt doch tatsächlich ein dumpfer
Schlag aus der Kulisse und mattes Wehgeschrei hinterher. So theatralisch gründlich
inszenierte Siegfried Höchst an der Berliner Volksbühne Ulrich Plenzdorfs
Schauspiel „Zeit der Wölfe" nach dem Roman „Die Richtstatt" des
sowjetischen Dichters Tschingis Aitmatow.
Es ist dies eine Uraufführung des Werkes, das
zur gleichen Zeit auch vom Hans-Otto-Theater in Potsdam inszeniert wurde. Dort führte
Gert Jurgons Regie. Seine Theatralik mied Naturalismen und suchte das
Symbolträchtige der Vorgänge. Bei Jurgons hängt der von Banditen gekreuzigte
Expriesterschüler Awdi wie ein mahnendes Menetekel über den letzten Szenen, in
denen der Viehzüchter Boston in seinen verhängnisvollen Amoklauf gerät.
Beide Inszenierungen bestätigen die dramaturgische Qualität des Textes. Epische Längen, die ich bei Höchst empfand, sind mir bei Jurgons nicht aufgefallen. Aber das mag daran liegen, daß ich die Potsdamer Aufführung zuerst sah. Plenzdorf jedenfalls — im Adaptieren sowjetischer Epik mittlerweile erfahren — hat die dramatische Substanz der verschlungenen Romanhandlung faßbar herausgearbeitet und komprimiert, meines Erachtens auch für den Zuschauer, der das Buch nicht gelesen hat. Der Autor bedient durchaus die aufwühlende, emotional bewegende Art des Zugriffs auf Wirklichkeit, wie sie Aitmatow eigen ist. Wer freilich speziell dessen Poesie erleben will, muß zum Roman greifen. Hier handelt es sich um ein Theaterstück. Und das lebt nicht durch sich häufende Reflexionen, sondern durch direkte menschliche Auseinandersetzungen.
Plenzdorf nimmt Aitmatows historisches
Urmodell, den Disput zwischen einem aufgeklärt-rationalen Jesus und Pontius
Pilatus, als Prolog und Motto an den Anfang. Da glaubt der eine felsenfest an
die Vernunft des Menschen, die sich über die Jahrhunderte behaupten wird, und
verteidigt diese seine humanistische Überzeugung, indem er auf die Richtstatt
geht. Da hält der andere die Menschen einfach für ewig kriegslüsterne Viecher.
Im Verlaufe des Stücks dann geben zwei außergewöhnliche,
selbstlose Helden aktuelle Proben aufs Exempel. Ein überzeugter Kommunist, der
Viehzüchter und Bestarbeiter Boston, kämpft im Bewußtsein sozialer Verantwortung
tragisch-vergeblich gegen bürokratische Engstirnigkeit. Und ein gläubiger
Christ, der wegen Ketzerei aus dem Priesterseminar ausgestoßene Awdi, baut ausschließlich
und allein auf die Überzeugungskraft des Wortes und scheitert, als er sich mit
Verbrechern einläßt.
Beide beeindrucken durch jene Unbeugsamkeit,
die in der Geschichte immer wieder nötig ist, um Fortschritt durchzusetzen. Beide
müssen sich aber auch Fragen stellen lassen. Der Zuschauer soll ihr Verhalten
in den gegebenen Umständen beurteilen, durchdenken und immer wieder nach
Lösungen suchen, damit die Tragik dieser Kunstwelt in der realen Welt
vermeidbar wird.
In Berlin gibt Matthias Freihof den Pilatus
als einen jungen, etwas fahrigen, offenbar verunsicherten römischen Statthalter
und Herbert Sand einen abgeklärten, selbstsicheren Jesus. In Potsdam agiert
Eckhard Becker als reifer, seine Zweifel bekämpfender Pilatus und Christian
Kuchenbuch als ein naiv-zuversichtlicher jugendlicher Jesus.
Christian Kuchenbuch ist dann auch Awdi, ein
großer lieber Junge, der sich in humanistischem Idealismus weltlichen
Fährnissen zuwendet. Was beeindruckt, ist die treuherzige Redlichkeit, mit der
dieser Expope als Reporter versucht, Rauschgiftjäger und Raffer
auszukundschaften und moralisch zu bekehren. Schön vermag Kuchenbuch die sanfte
Verzauberung zu spielen, die Awdi überkommt, als ihm Inga Fjodorowna, die
Biologin (Anette Straube), begegnet.
An der Volksbühne stellt Reiner Heise einen
reifen, bestimmten Awdi dar, der sein Martyrium mit gefaßter Zähigkeit auf sich
nimmt. Das unvermutete Zusammentreffen mit Inga in der Steppe bewegt ihn
elementar. Erotik hat er bislang nicht erfahren. Debütantin Claudia Michelsen zeigt
eine berufsbesessene Biologin, die im Umgang mit dem weltfremden jungen Mann
Awdi raffiniert Zeichen setzt, indem sie ihn mit ihrem vollen Haarschopf wie
zufällig streift und animiert.
Inga ist bei Plenzdorf auch die Wölfin, die
ihre von Basarbei geraubten Jungen sucht und Bostons Kind aus Mutterinstinkt
mit sich nimmt. Anette Straube huscht mit gleichsam wölfischer Behendigkeit
über die Szene, Claudia Michelsen muß die Kindesergreifung mit zeitlupiger
Ausführlichkeit erledigen.
Das Außer-sich- und In-Ver-zweiflung-Geraten
Bostons spielt Michael Walke psychologisch unmittelbar. Sein Bestarbeiter ist ein
umgänglicher, warmherziger Mann, der erst und zunehmend durch die Umstände in den
Protest und ins Verderben getrieben wird. Günter Junghans' Boston an der
Volksbühne ist ein lauterer, in sich fester, von vornherein etwas verbitterter,
aber wetterfester Kerl. Dessen Auseinandersetzungen im Parteikomitee reißt
Höchst zu rhetorisch-agitatorischen Attacken hoch. Jurgons in Potsdam arrangiert
das nicht minder scharf, aber mit mehr Ironie.
Prägnante schauspielerische Leistungen auch
in den übrigen Rollen, in Berlin Jürgen Rothert etwa als Brandschutzleiter
Kandalow, Dietmar Huhn als Direktor, Hannelore Koch als Gülümkan, Annekathrin
Bürger als Arsügyl, in Potsdam Eckhard Becker als Kandalow und Eva Weißenborn
als Gülümkan. Die Anaschasammler scheinen mir in beiden Aufführungen theatralisch
überdreht. Diese exotischen Typen lassen sich nicht so ohne weiteres als
ausflippende europäische Stadtstreicher und Gammler fassen.
Jochen Finke in Berlin, der eine
Bühnenbildner, entschied sich für eine weite, im Hintergrund durch Berge
begrenzte Steppe mit Schienenstrang, in die er — Ortswechsel andeutend — salopp
eine Bahnhofsuhr oder plakativ ein Leninbildnis hängt. Angelika Krowosch, die
Ausstatterin in Potsdam, wählte einen bahnhofshalligen Kasten als
Hauptspielort, was der symbolisch gemeinten Spielweise zumindest nicht schadet.
Viel Beifall der Zuschauer hier wie dort.
Neues
Deutschland, 12. Oktober 1989