„Woyzeck“ von Georg Büchner am Burgtheater Wien, Regie Achim Freyer

 

 

 

Naive Vision auf Hochglanz gestylt

 

Es sind die Zeiten in Österreich offenbar nicht, mit Georg Büchners „Woyzeck" irgendeinen sozialen Aufschrei zu artikulieren. Das Wiener Burgtheater, geladen zum 27. Berliner Theatertreffen in die Freie Volksbühne, zeigte in Regie, Kostüm und Bühnenbild von Achim Freyer eine mit dem Gestus des mittelalterlichen Mysterienspiels abgezirkelte, zu sinnenfroher Betrachtung hergestellte Aufführung. Gewiß nicht so simpel wie dereinst. Im Gegenteil: auf ästhetischen Hochglanz gestylt als Vision von der Armseligkeit des Menschen. Und hierin von erstaunlicher, ja raffinierter Naivität.

 

Ein Schaubuden-Ansager (bizarr gespielt vom Liliputaner Fritz Hakl) eröffnet die minutiöse Stationen-Show. Links an der Rampe fiedelt unberührt und würdevoll ein schwarz gekleideter Sensenmann leise seine diabolisch unaufhaltbare, gelegentlich heitere Weise des Todes. Auf schräger, aus schwarzem Bühnengrund herausgeleuchteter kahler Spielfläche postieren sich Szene für Szene die Gestalten, durch Haltung, Kostüm und Schminkmaske deutlich in die Kunstsphäre gerückt.

 

Agiert wird, bei verhalten pantomimischen Bewegungen, meist am jeweiligen Platze, vornehmlich mit geradezu kultischem Vortrag des Textes. Wenige Aktionen. Wenn Woyzeck (Martin Schwab) seinen Hauptmann (Heinz Schubert) zu rasieren hat, trippelt er barfüßig um ihn herum und dreht ein blankes, symbolisches Rasiermesser, während der Hauptmann, seine Arme ausbreitend, sich auf der Stelle dreht wie ein überflüssiger Verkehrsschutzmann. Das ist von seltsam komischer Ernsthaftigkeit. Und es wird genau so aufgenommen. Der Zuschauer stellt sich auf diese Spielkonvention ein.

 

Dazu gehört die nackte, plastgeschwollene Brust des Tambourmajors, eines Kitsch-Supermans (Thomas Wolff). Dazu gehört die riesige wilde Mähne der Marie (Cornelia Kempers), womit deren Leidenschaftlichkeit erzählt ist. Denn menschliche Beziehungen finden nicht statt. Wenn dem Woyzeck der Puls gefühlt und nicht nur davon gesprochen wird oder er  ein Haupt dem Major eifersüchtig in den Leib rennt — stets hat es Kunstvolligkeit. Und steht damit oft in verblüffender Kongruenz mit dem poetisch übersensiblen Text.

Einmal nur, wenn es ans Töten geht, nähert sich Woyzeck seiner Marie körperlich. Liebe und Tod umschlungen. Ewig unergründliche Partner und Gegensätze. Wie des Dichters aus menschlichem Urgrund aufbrechende dualistische Arme-Leute-Frage: Warum darum? Der dem Mord folgende schrille Narrentanz im Wirtshaus mit Woyzecks neu aufflammendem Begehren, nun auf Käthe, assoziiert die Antwort: Der Mensch — die ewige Kreatur!

Auch das ist Büchner. Eine herausgefilterte Sicht. In solch ästhetischer Reinheit wird sie so schnell nicht wieder auf einer Bühne zu bewundern sein. Ovationen für das Burgtheater.

 

 

 

Neues Deutschland, 19./20. Mai 1990