„Woyzeck“ von Georg Büchner an der Volksbühne Berlin, Regie Andreas Kriegenburg

 

 

 

Der Mensch  -  eine Bestie

 

Noch bevor Frank Castorf, der designierte Chef der Volksbühne, sein Regiment angetreten hat, versucht ihn Andreas Kriegenburg zu überholen, ohne ihn einzuholen. Er kommt aus Frankfurt an der Oder, bringt auf ihn eingeschworene Schauspieler mit und haut als Einstand in Berlin erst einmal Georg Büchners „Woyzeck" in einen theatralischen Schmelztiegel.

Oder anders gesagt: Er sperrt das Figurenmaterial in eine winkelige, farbmatte Spielschachtel (Bühnenbild Susanne Schuboth), schüttelt kräftig durch und zaubert in Meyerholds biomechanischer Manier allerhand symbolische Geschichten hervor. So daß der Wettstreit zwischen ihm und Castorf unterhaltsam zu werden verspricht. Ob er auch unter Anteilnahme des Publikums stattfinden wird, muß die Zukunft zeigen.

Trotz verwirrendem zelebralem Aktionismus wird eine These ablesbar: Der Mensch ist eine Bestie! Und das geht so: Der armselige Woyzeck (Torsten Ranft) trippelt zunächst einmal als Symbol für das manipulierte Individuum wie ein Automat auf der Bühne herum. Die Arme hält er ständig so, als seien ihm Handschellen angelegt. In dieser Verfassung wird er in die diversen Episoden verwickelt. Vorgegeben sind sie von Henri Poschmann, der die Texte nach den Handschriften neu hergestellt hat. Dabei sind stammelnde Schemen herausgekommen. Aber Büchner darf auch im Original zugegen sein. Etwa wenn der Hauptmann (Ralf Dittrich) den Woyzeck einseift und ihn als Lustobjekt benutzt. Danach treibt er ihn zu einer Revolutionsetüde mit roter Fahne und Getöse, wobei Woyzeck fröhlich sein darf. Bald aber fällt der dazu Verführte in dumpfe Lethargie zurück.

Die Figuren formieren sich gelegentlich zur „Masse". Einmal sind sie mit einem Spieß bewaffnet, wie das die sieben Schwaben zu machen pflegten, und attackieren den Juden (Jürgen Rothert). Sie „pfählen" ihn, aber zum Glück, wie sich zeigt, nur sein Gewand, so daß er fliehen kann. Als die „Masse" die rote Fahne verrät, holt sie sich der Jude. Worauf er eine neue Attacke, vorgetragen vom bucklichten Tambourmajor (Gerd Preusche), angefeuert von der „Masse", über sich ergehen lassen muß. Die irre Großmutter (Heide Kipp), die dazwischen gerät und malade Heines „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten" singt, wird gewaltsam entfernt.

Woyzeck, dem der Doktor (Winfried Wagner) seine Sprüche aufdrängt, hampelt noch immer als Panoptikumsfigur über die Bühne. Der Regisseur, ein Fan offenbar des deutschen Volksliedes, des Liedes überhaupt, hat viele seiner Spieleinlagen musikalisch ornamentiert. Der willenlose Woyzeck beispielsweise agiert schon mal unter Abgesang des Deutschlandliedes. In anderen Fällen eskaliert ein Lied auch mal zur gestotterten Arie. Die Sinngebung pendelt ständig zwischen läppisch-pubertär und sarkastisch-intelligent. Letztendliche Botschaft im Spielchaos: Der von sozialen Mechanismen willfährig gemachte Mensch steigt unaufhaltsam ab zur Bestie.

Selten hat eine Inszenierung das Töten dieses Armseligen so deutlich vermittelt, nämlich ritualisiert als ewig aktuelles Menschenwerk. Woyzeck wirft sein Käppi ab, auch Jacke und Hemd, und ist nun, mit nacktem Oberkörper, ein frischer, jugendlicher, ganz bewußt handelnder Bursche. Er tanzt und schäkert noch lange mit Marie (Annett Kruschke), die ihren superlangen Zopf selig um ihn schlingt. Dann beginnt er zu morden. Brutal wirft er das Weib gegen die Wand, zerrt es ins Wasser, will es ertränken, würgt es. Da es nicht sterben mag, rammt er das Messer in den Leib.

Zeremonie auch danach. Die Großmutter bietet ihre Mär vom armen Kind. Ein Knabe spricht das Schlußecho in vielen Sprachen. Dann regnet es Geldscheine vom Himmel. Aber niemand faßt danach. Die „Masse", die dem Mord gleichgültig zugeschaut hat, verzieht sich in die Kulisse. Vielleicht sollten es auch nur welke Blätter sein, die nun Maries Leichnam bedecken. Dies und auch anderes, zu vieles, scheint mir, ist zu verschlüsselt bei Andreas Kriegenburg.

Dafür kurz Beifall, Bravos und lautstarke Buhs, die neuerdings übliche Berliner Mischung.

 

 

 

Neues Deutschland, 21./22. Dezember 1991