9. Die Herausforderung Brecht (1962
– 1975)
9.7
Alexander Stillmark wird Regisseur
Der 1941 in Karlsruhe geborene
Alexander Stillmark kam 1949 mit seinen Eltern nach
Erfurt, machte dort das Abitur und absolvierte
eine Lehre als Töpfer. Ab 1961 studierte er an der Schauspielschule mit Margit Bendokat, Sybille Hahn, Petra Hinze, Renate Reinecke, Christine Schorn, Ursula Schucht, Peter Aust, Egon Brennecke, Jürgen Gosch, Klaus Hartmann, Tim Hoffmann,
Klaus Manchen, Dieter Mann, Wilfried Pucher, Christian Stövesand und Lutz Wesolek. Schon bald
erkannten die Pädagogen das Regietalent dieses sympathischen, aufgeschlossenen Studenten, der als Schauspieler zunächst Probleme
hatte.
«Ich verstand nicht», erzählt er, «was
die Dozenten von mir wollten, und sie
mich wohl auch nicht. Also bekam ich zusammen
mit Christine Schorn und Tim Hoffmann "die
letzte Chance". Durch Zufall ergab sich der glückliche
Umstand, daß Kurt Veth Zeit hatte. Er nahm sich der verlorenen Schafe an und machte mit uns "Rassen" von Bruckner. Und nun begann das Studium eigentlich erst: Von Anfang an forderte er Klarheit, Präzision und Ausdauer. Das System von physischen Handlungen und Dialogen wurde ganz genau gebaut. Nach dieser
Arbeit waren die Bedenken beseitigt, wir wurden weiter ausgebildet.» (9.40) Stillmark
arbeitete daraufhin bereits in der Schule als Assistent
von Kurt Veth und wurde von diesem Manfred
Wekwerth empfohlen.
«Das Gespräch mit Helene Weigel», berichtet er, «werde ich nie vergessen: "Ja", sagte sie, "Sie sind mir
vorgeschlagen worden vom Wekwerth. Sie sollen
ganz tüchtig sein, das können wir brauchen. Sie werden hier viel arbeiten müssen. Bei mir zählt allein das Interesse
an der Arbeit. Nur eins, Buberl, mußt Du wissen:
zu dem Beruf braucht man Ellenbogen!"» (9.41) Stillmark ging 1964 als Regieassistent zum Berliner Ensemble
und wurde Schüler von Wekwerth. Daneben
betreute er Aufführungen als Abendregisseur, mußte er Abendberichte
schreiben, die von der «Chefin peinlich genau
eingeklagt wurden. Sieben Jahre am
Berliner Ensemble habe ich eigentlich
rund um die Uhr gearbeitet. Ich wurde Mitarbeiter für Regie und Dramaturgie. So wuchs man langsam in den Beruf hinein.» (9.42)
Die erste eigene Regiearbeit Stillmarks war 1968 die Inszenierung des «Kaukasischen Kreidekreises» von
Brecht in Görlitz/Zittau, gemeinsam mit Klaus Erforth (1957 Absolvent der
Schule). Von da datiert die langjährige
erfolgreiche künstlerische Zusammenarbeit dieses Regieteams. «Wir waren
gewohnt, kollektiv zu arbeiten. Im
Mittelpunkt stand nicht das Individuum
Regisseur, sondern die Inszenierung,
der Schauspieler, das Anliegen, gemeinsam
ein Stück zu machen. Das muß da sein, das kann man nicht verabreden.
Diese Arbeit mit Klaus, 15 Jahre,
lief natürlich nicht ohne Spannungen ab, sie
hat uns jedesmal das Letzte abverlangt zugunsten der Inszenierung.» (9.43)
1970 wechselten Alexander Stillmark
und Klaus Erforth zum Deutschen Theater. Mit
Schillers «Kabale und Liebe» erzielten sie ihren ersten großen Erfolg in Berlin. «Das wird für mich eine der
bestimmendsten Arbeiten bleiben. Die Produktionsweise war etwas ungewöhnlich,
weil wir uns zusammen mit Alexander Lang, der den Ferdinand
spielte, entschlossen hatten, das Stück ungekürzt zu probieren. Wir entdeckten die enorme Monstrosität von
Schiller in dem Sinne, daß alles keine natürlichen,
naturalen Situationen sind. Die scheinbar normale Wirklichkeit ist gigantisch überhöht, Ausdruck eines großen Geistes, der sich an seiner Zeit reibt. Wir hatten wunderbare Proben. Es wurde alles
ausprobiert, alle Regieanweisungen Schillers wurden
wörtlich genommen. Die Figuren kamen in Raserei. Und die kleinen Stuben, die Jochen Finke entworfen hatte,
verstärkten noch den Überdruck... Nun erst wurden gemeinsam mit den
Schauspielern die Striche verabredet. So bildete sich durch kollektive
Arbeitserfahrung das Spielensemble.» (9.44)
„Kabale und Liebe“ mit Christine
Schorn und Alexander Lang
Mit dieser Aufführung hatten die Regisseure den
Schauspieler Alexander Lang in Berlin endgültig durchgesetzt. Sie probierten
mit ihm 1973 «Die Kipper» von Volker Braun, besetzten ihn 1979 zusammen mit
Christian Grashof in der «Insel» von Fugard.
Ein außergewöhnlicher Erfolg für Stillmark/Erforth wurde
1974 die Inszenierung von Pablo Nerudas «Glanz und Tod des
Joaquin Murieta» mit Studenten der Schauspielschule. (9.45)
1979 arbeiteten sie «Schlacht/ Traktor» von Heiner Müller in Erfurt, 1980 am
Deutschen Theater mit Thomas Neumann Borcherts «Draußen vor der Tür». Damit
rundete sich das Bild dieses Regieteams: «Es kamen Klaus Erforth und Alexander
Stillmark und inszenierten ein "Kabale und Liebe", in der heftig
Schillers junges Rebellentum auflebte, und fanden immer mehr zu einem packenden
expressiven Realismus: bei den "Kippern" von Volker Braun und bei
Athol Fugards «Die Insel», wo sie ein exzessives Theater der Körperlichkeit
(Alexander Lang und Christian Grashof sich bis zur Erschöpfung ausgebend) zu
erregendem und erschütterndem politischem Theater machten...» (9.46)
1983 betreuten beide eine Inszenierung von Brechts «Mann
ist Mann» in Helsinki. Im gleichen Jahr trennten sie sich. Stillmark
inszenierte in Hanoi Brechts «Kaukasischen Kreidekreis» am Cheo-Theater. Die
Aufführung war 1985 in Berlin zu sehen. Er hatte es verstanden, «das Stück mit
den traditionellen Mitteln dieses Theaters zu erzählen. Er nutzte die
darlegend-epische, mitteilsame Spielweise, die Einführung und Kommentierung des
Geschehens durch Sänger und Chor, schließlich die mimischen Fertigkeiten der
Clowns...» (9.47) 1984 brachte Stillmark wieder am Deutschen Theater Kipphardts
«Bruder Eichmann» (Titelrolle: Thomas Neumann), 1985 «Das Ende der Welt mit
anschließender Diskussion» von Kopit heraus.
Der Regisseur Stillmark hat es sich gewiss nie leicht
gemacht. Er hat — immer am Puls der Zeit — Enttäuschungen verarbeiten müssen,
zum Beispiel, als 1978 Volker Brauns «Guevara» nicht zur Uraufführung kam. Er
bekennt: «Wenn ich so die Arbeiten der vergangenen zwanzig Jahre betrachte,
merke ich zunehmend, je mehr ich arbeite, daß ich immer mehr an den Anfang
komme, daß ich immer wieder fragen muß: Wie funktioniert Theater? Insofern bin
ich in ständiger Veränderung, immer auf Entdeckung: das Theater Brechts, die
Schauspieler am Deutschen Theater, die gemeinsame Regiearbeit. Das ist sehr
aufregend. Film interessiert mich. Texte. Bilder. Die Forderung der Form in den
Stücken. Die Forderungen der Zeit. Und als dritte Forderung: die Schauspieler,
der Mensch im Spiel. Von daher sehe ich meine Neugier
gespeist, wie auf einem Experimentierfeld bestimmte Kräfte in Konstellation zu
bringen sind.» (9.48)
Eine seiner jüngsten Arbeiten war im Auftrag des
Goethe-Instituts die Inszenierung des „Auftrag“ von Heiner Müller in La Paz in
Bolivien zur Eröffnung des FITAZ.
Anmerkungen:
9.40 Gespräch m. A. Stillmark
v. 20.12.1985, Archiv G. Ebert,
Tonb.-Aufz. Zurück
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9.41 Ebenda
Zurück zum Text
9.42 Ebenda
Zurück zum Text
9.43 Ebenda
Zurück zum Text
9.44 Ebenda
Zurück zum Text
9.45
Vgl. Kapitel 9.11 «Studioinszenierungen» Zurück zum Text
9.46
Helmut Ullrich, Ein Viertel von einem
Jahrhundert - Ein Kritiker läßt Revue
passieren, in: 100 Jahre Deutsches Theater, a.a.O., S. 272 Zurück zum Text
9.47
Gerhard Ebert, Überzeugende Schauspielkunst
- aus reicher Tradition gewachsen, Neues Deutschland,
Berlin 9.10.1985 Zurück zum Text
9.48 Gespräch m.
A. Stillmark, a.a.O. Zurück zum Text
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